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Wirtschaft: Burkhard Horstmann

(Geb. 1955)||Er soff, er schlief im Freien, alle haben ihn gekannt. Sein Name: Ingo.

Von David Ensikat

Er soff, er schlief im Freien, alle haben ihn gekannt. Sein Name: Ingo. Am 24. August ist er 50 geworden und hatte keine Ahnung davon. Er rannte erstmal weg, als zwei fürsorgliche Damen vom Fixerbus ihn besuchen kamen. Dass die Leute ihn anstarrten, dass Touristenbusse am Kottbusser Tor langsamer fuhren, damit die Insassen ihn auf seiner Matratze besser filmen konnten, das machte ihm nichts aus. Wenn sich aber zwei Frauen näherten, mitten auf seiner Insel, umtost vom Autolärm, zwei Frauen in sauberen Sachen, dann konnte das nichts Gutes bedeuten.

„Mensch, Ingo, warte mal! Wir wollen dir doch nur zum Geburtstag gratulieren!“ – Ingo nannten ihn alle, wie er wirklich hieß, wusste kaum jemand. Ingo brüllte: „Haut ab! Ich hab am 24. August Geburtstag, verdammt!“

Welche Rolle spielt das Datum, wenn man von Flasche zu Flasche lebt, wenn das Zuhause eine Matratze auf einer Verkehrsinsel ist, seit 15 Jahren, vielleicht auch seit 17. Welche Rolle spielt ein Geburtstag, wenn man sowieso 20 Jahre älter aussieht und sich längst entschieden hat: Ich sauf’ mich tot?

Die Frauen überzeugten Ingo von ihren guten Absichten, sie schenkten ihm einen neuen Schlafsack, und er freute sich – über eine neue Flasche Schnaps hätte er sich noch mehr gefreut. Sie nahmen ihn mit zum Bus, da musste er diesmal nicht auf seinen Kaffee warten, sondern durfte gleich hinein. Die Junkies und die Säufer kamen, „Mensch Ingo, fuffzich! So jung komm’wa nich’ mehr zusammen!“, und Ingo war richtig gerührt. Er bekam von irgendwem ein paar Euro zugesteckt, stand auf und ging rüber zum Kaiser’s, wo sie die kleinen Schnapspullen verkaufen. So nahm der Tag wieder seinen Lauf wie der davor und der danach.

Die Stationen seines Lebens: Kinderheim in Rerik an der Ostsee, der Traum vom goldenen Westen, Fluchtversuch, Knast, Tätowierungen, Freikauf in den Westen, Hochzeit, die Frau hängt an der Nadel, er säuft, Scheidung, Kündigung der Wohnung, Endstation Kottbusser Tor.

Es gab mal so einen Werbezettel für eine Bustour nach Berlin, inklusive Abstecher nach Kreuzberg, darauf haben sie auch mit „Ingo vom Kotti“ geworben. Der „Kotti“: Multikulti-Idyll, bisschen Türkei, bisschen Elend, ein Penner auf dem Präsentierteller, jeder nach seiner Fasson. Hübsch anzusehen durch die Scheiben eines Busses.

Draußen wanderten die Tauben über Ingo hinweg, während er schlief, tagsüber saß er auf einer Mülltonne gegenüber der Verkehrsinsel und wartete, dass jemand ihm den Suff finanzierte. Früher hat er mal für den Gemüsetürken Kisten gestapelt, das ging nicht mehr, seit er nicht mehr so gut zu Fuß war. Außerdem stank er entsetzlich – die Händler hätten ihn sowieso nicht mehr rangelassen. Die Türkenjungs wussten: Wenn Ingo breit ist, reagiert er immer ganz toll, dann muss man nur rufen: „Hey, Ingo, alter Sack!“. Dann schwenkt er die Fäuste und brüllt wie blöde: „Ich werf’ ’ne Bombe auf euch! Kanaken!“

Ein paar Rentner aus dem Altersheim um die Ecke gaben ihm etwas Geld, Döner und Obst bekam er in den Läden geschenkt, die Wachschützer vom U-Bahnhof luden ihn mal zum Kaffee ein. Die Krankenschwester vom Fixerbus kümmerte sich um seine Verletzungen und schnitt ihm hin und wieder die Haare. Natürlich vor dem Bus, man will ja gar nicht wissen, was sich in den Loden über die Monate angesammelt hat. Mit grandioser Geduld brachte sie ihn im Juli nochmal dazu, sich zu duschen – früher ist er hin und wieder in den Kanal gesprungen, aber so fit war er schon lange nicht mehr. Sie kleidete ihn auch neu ein, und die Leute riefen: „Mensch Ingo, supa siehste aus!“ Da war er stolz und hoffte, beim Türken vielleicht doch nochmal Kisten stapeln zu dürfen.

Ingo erzählte gern, dass sogar der Diepgen ihm eine Wohnung angeboten habe. Völlig sinnlos, selbstverständlich. Sie haben ihn auch mal in ein Kloster gebracht, wo er ein sauberes Zimmer haben sollte. Ist er gleich wieder abgehauen, zurück auf seine Insel. „Der hat nichts anderes gewollt“, sagen die Leute und zucken die Schultern. Manche vermuten, dass er klaustrophobisch war und keine engen Räume vertrug.

Ingo konnte sich ein anderes Leben nicht mehr vorstellen. Was einem Menschen gut tut, abgesehen von Suff und Tabak, das hatte er längst vergessen. Die Krankenschwester vom Fixerbus hat ihm mal ein Fußbad gemacht und ihn damit auf den Platz gesetzt. Das tat ihm gut, na klar. Aber ein Fußbad macht nicht süchtig. Man kann auch ohne leben. Und man vergisst ein Fußbad schnell, wenn die Prioritäten andere sind.

Ingo hat mal gesagt, er wolle am liebsten zu Hause sterben. Er starb nicht auf seiner Insel, sondern am anderen Ufer, drüben auf dem Platz, wo er tagsüber immer saß. War ja auch sein Zuhause, irgendwie. Da kannten ihn alle. Ob sie ihn vermissen werden?

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