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Wirtschaft: China: Olympiade soll Fortschritt besiegeln

Es ist Nacht im Pekinger Norden, und fast würde man es nicht merken. Riesige Scheinwerfer tauchen Menschen und Maschinen in ein kaltes, unwirkliches Licht.

Es ist Nacht im Pekinger Norden, und fast würde man es nicht merken. Riesige Scheinwerfer tauchen Menschen und Maschinen in ein kaltes, unwirkliches Licht. Presslufthämmer knattern. Soweit das Auge reicht, sieht man die Betongerüste riesiger Wohnblöcke. Arbeiter mit nackten Oberkörpern wühlen mit Hacken, Schaufeln und Bulldozern durch das Erdreich. "Xin Beijing, xin Auyun", steht in riesigen Zeichen auf einer Tafel geschrieben. "Ein neues Peking, eine neue Olympiade!" Und eigentlich fehlt hier nur noch der Zusatz: "Ein neues China!"

Draußen vor der Stadttoren Pekings entsteht der "Jade Frühlingspark" - die Sport- und Wohnanlagen für die Olympiade 2008. Noch hat Peking nicht den Zuschlag. Am 13. Juli werden die IOC-Delegierten in Moskau über die Vergabe der Olympiade entscheiden. Doch die Vorbereitungen laufen hier auf Hochtouren. "Ein Aushängeschild" für Chinas wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung solle die Olympiade werden, sagt Jiang Xiaoyao, Stellvertretender Chef der Pekinger Bewerbung. Und was ist, wenn Peking die Spiele nicht bekommt? Die Frage stellt sich nicht. Denn gebaut wird im jeden Fall - ein neues China.

Der Außenhandel floriert

Das Knattern der Presslufthämmer ist der Rhythmus des chinesischen Aufschwungs. Nach zwei Jahrzehnten Reform und Öffnung steht Chinas Wirtschaft glänzend da. Um acht Prozent stieg vergangenes Jahr das Bruttoinlandsprodukt. Für 2001 rechnet die KP-Führung um Staats- und Parteichef Jiang Zemin mit ähnlichen Zahlen. Zugpferd ist der Außenhandel: Um 31,5 Prozent erhöhten sich im Vorjahr Im- und Exporte. Während im restlichen Asien die Katerstimmung noch nicht verflogen ist, verzeichnet Peking einen ungebrochenen Strom ausländischer Direktinvestitionen. 348 Milliarden Dollar wurden seit 1978 aus dem Ausland in China investiert. VW produziert in Shanghai und Changchun Autos, Siemens baut Handys, Schnellzüge und Kohlekraftwerke, Krupp kocht Stahl. 12 Milliarden Mark haben deutsche Firmen bislang in China investiert.

Die Öffnung hat Chinas Gesicht verändert. Shanghais Hochhausviertel sind imposanter als Berlins Potsdamer Platz. Nicht in Paris, London oder New York, sondern in der chinesischen Wirtschaftsboom-Metropole mit seinen 15 Millionen Menschen wird in zwei Jahren der Transrapid zwischen dem Flughafen und der Stadt schweben. Und die blauen Mao-Anzüge haben die Chinesen schon vor einem Jahrzehnt eingemottet, in den Städten orientiert man sich an den Modetrends aus Hongkong und Tokio. Familienväter träumen vom Audi A6, der im nördlichen Changchun produziert wird, und sparen auf den billigeren VW-Santana. In 15 bis 20 Jahren könnte China die zweitgrößte Volkswirtschaft hinter den USA sein, schätzt Andy Xie von der Investmentbank Morgan Stanley Dean Witter in Hongkong. Derzeit liegt die Volkrepublik auf Platz sechs.

Bisher erstreckt sich das chinesische Wirtschaftwunder nur auf einen kleinen Teil des Landes. Rund 300 Millionen Menschen in den Küstenprovinzen Guangdong, Fujian, Jiangsu, Zhejiang und Shandong haben von den Reformen profitiert. Für den größten Teil der Chinesen, die 800 Millionen Bauern und Bewohner im Hinterland, hat sich der Lebensstandard in den vergangenen zwei Jahrzehnten nur wenig verbessert. Im Westen an der Grenze zu Pakistan, bestellen die Bauern ihre Felder noch mit Pflug und Esel. Zwei Drittel der Volksrepublik sind Entwicklungsland. Landesweit liegt das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt gerade bei 708 Yuan - umgerechnet rund 200 Mark.

Um den Aufschwung auf das Hinterland auszudehnen, haben Pekings Führer eine Kampagne gestartet. Unter dem Motto "Den Westen erschließen" will Peking das Hinterland im Eilverfahren industrialisieren. Für Milliardenbeträge werden Straßen, Kraftwerke und Infrastrukturprojekte angeschoben: Ein halbes Dutzend neuer Flughäfen ist in Planung, die tibetischen Hauptstadt Lhasa wird an das Eisenbahnnetz angeschlossen, Pipelines sollen Öl aus Xinjiang an die Küste pumpen, ein riesiger Wasserkanal den trockenen Norden mit Wasser aus dem Jangtse versorgen. Staatsbetriebe müssen auf Anordnung der Partei im Hinterland der Westprovinzen Fabriken aufmachen, und auch manches Westunternehmen wird mit sanften Druck zu Investitionen ermuntert.

Der Erfolg ist bisher bescheiden. Nur drei Prozent der ausländischen Investitionen gehen in den Westen. Die Industrie ist zurückhaltend, die Unternehmen bereiten sich auf härtere Zeiten vor. Denn voraussichtlich Anfang nächsten Jahres wird die Volksrepublik der Welthandelsorganisation WTO beitreten. 14 Jahre haben die Verhandlungen gedauert, das Riesenreich in die Systeme der Weltwirtschaft zu integrieren. Der Beitritt wird der größte Einschnitt seit dem Beginn der Reformen: Nach Dekaden staatlicher Protektion werden Chinas Unternehmen dem rauen Wind des internationalen Wettbewerbs ausgesetzt. Chinas Banken, die derzeit noch auf faulen Krediten in Höhe von rund 300 Milliarden Mark sitzen, müssen nach wenigen Jahren Übergangsfrist dann mit Weltbanken aus Frankfurt, London und New York konkurrieren. Autohersteller, Versicherungen, Computerfirmen, die Landwirtschaft - sämtliche Schlüsselindustrien, die bislang durch Zölle und Bestimmungen geschützt waren, werden schrittweise dem Markt ausgesetzt.

WTO-Beitritt kostet 20 Millionen Stellen

Für Chinas Wirtschaftslenker, wie Premier Zhu Rongji, ist die WTO vor allem ein Druckmittel nach innen. Er hat erkannt, dass China langfristig mit Plastikspielzeug, Heizdecken und anderen Billigprodukten nicht zu den Industrienationen aufschließen kann. Um Top-Firmen mit Markenprodukten zu entwickeln, müssen sich Chinas Unternehmen dem weltweiten Wettbewerb stellen. Die meisten der Staatsbetriebe sind veraltet, viele produzieren am Markt vorbei. Rund ein Drittel der Beschäftigen in diesen Firmen sind nach westlichen Maßstäben überflüssig. Mindestens 20 Millionen Menschen werden Schätzungen zufolge nach dem WTO-Beitritt ihren Job verlieren. Die Hoffnung der KP-Führer: Der Beitritt zur WTO soll genügend Wirtschaftsdynamik entwickeln, dass die Privatindustrie das Heer der Arbeitslosen zum Teil auffangen kann.

Langfristig sollen die Unternehmen deshalb auf IT-Technologie, Biotechnik und andere High-Tech-Bereiche ausrichtet werden. Der Sohn von Staatschef Jiang Zemin baut zusammen mit taiwanesischen Investoren für 1,6 Milliarden Mark bei Shanghai ein hochmodernes Chipwerk. Um weitere Firmen anzulocken, investiert Peking in Bildung. Eliteuniversitäten wie die "Peking Universität" und die "Qinghua Universität" werden ausgebaut.

Natürlich gibt es auch Sorgen. Über Korruption klagen viele, über die riesige Schattenwirtschaft, die von KP-Führern und dem Militär kontrolliert werden. Manche befürchten, dass China als Exportland in eine Weltrezession gezogen werden könnte. Ein Fünftel aller chinesischer Ausfuhren geht in die USA. Dennoch: Langfristig zweifelt niemand, dass der Aufschwung in China weiter gehen wird. BASF baut mit einem chinesischen Partner in Nanjing ein Chemiewerk für mehr als fünf Milliarden Mark.

Und die Olympiade? Sie soll das Sahnehäubchen auf der chinesischen Erfolgsgeschichte werden. Mit einer Propagandakampagne wird das Volk in Stimmung gebracht. Von den 1,6 Milliarden Dollar Kosten redet niemand. Warum auch, wenn die Führung in den Drei-Schluchten am Jangtse für 40 Milliarden Mark einen umstrittenen Staudamm bauen lässt? Wenn sie erwägt, 50 Milliarden Mark in eine Trasrapidstrecke zwischen Peking und Shanghai zu investieren, während in den normalen Zügen der Platz so eng ist, dass sie Reisenden im Gepäcknetz liegen? Geld und Vernunft spielen bei Pekings Vorzeigeprojekten eine geringe Rolle. Ob im "Jade Frühlingspark" tatsächlich olympische Sportler wohnen werden, oder reiche Pekinger einziehen? Chinas Presslufthämmer knattern in jedem Fall weiter.

Harald Maass

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