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Wirtschaft: Chinas riskanter Aufstieg

Das rasante Wachstum kaschiert die Probleme – reißt der Boom ab, könnte auch der Westen leiden

Shenzhen - Liu Xiaoyuan fuhr mit dem Zug in die neue Welt. Elf Stunden dauerte die Reise aus ihrem armen Dorf in den Süden. Die 22-Jährige heuerte in einer Kleiderfabrik an. Seitdem sitzt Liu Xiaoyuan mit Hunderten Frauen in einer riesigen Halle und näht Hemden, zehn Stunden am Tag. Alle zwei Jahre fährt sie für ein paar Tage zurück in die Heimat in Henan. Liu ist zufrieden: „Mit dem Geld kann ich mir etwas für die Zukunft aufbauen.“ Millionen Landbewohner wie Liu haben in den vergangenen Jahren ihre Felder verlassen, um an der Küste Arbeit zu finden. Dort entstand Fabrik um Fabrik. Heute ist die Gegend um das Perlflussdelta in Südchina das größte Industriegebiet der Erde. Jeden Monat werden hier Exportartikel für zehn Milliarden Euro produziert – Spielzeug, Kleidung, Computer. An den Fließbändern entsteht Chinas Wirtschaftsboom. Er ist gut für die Industrieländer – aber zugleich eine Gefahr.

Wolkenkratzerstädte, Weltraumraketen, der größte Staudamm der Erde, der erste Transrapid – das sind die Symbole für den Aufstieg des 1,3-Milliarden-Einwohner-Landes. Bis 2040 könnte China die USA als größte Volkswirtschaft ablösen. Für Regierungschefs sind Besuche in China daher Pflicht. Bundeskanzler Gerhard Schröder besucht ab Montag bereits zum sechsten Mal das Reich der Mitte. Chinas Wirtschaft boomt. 9,6 Prozent betrug das Wachstum im zweiten Quartal – trotz der Bemühungen Pekings, das Wachstum zu bremsen. „Die chinesische Wirtschaft steht vor einer kritischen Wegscheide“, mahnte Ministerpräsident Wen Jiabao.

Nirgends wird Chinas Aufstieg so deutlich wie am Perlfluss. Das an Hongkong grenzende Industriegebiet, so groß wie Belgien, ist die Fabrikhalle der Welt. Siemens, Sony, Nike, Nestlé – kaum ein Konzern, der hier nicht produzieren lässt. 30 Millionen Wanderarbeiter stellen in den Fabriken Massenware her.

Den Preis für den Sprung ins Industriezeitalter zahlt die Natur. China ist heute der zweitgrößte Produzent von Treibhausgasen nach den USA. Dabei steht es erst am Anfang der Industrialisierung. In den kommenden Jahren werden Millionen chinesischer Familien sich erstmals ein Auto leisten können. Auch der Energieverbrauch steigt. China ist heute der größte Produzent und Verbraucher von Kohle – eine Milliarde Tonnen werden pro Jahr verfeuert.

Peking hofft, dass bald höherwertige, sauberere Güter produziert werden. High-Tech- und Biofirmen, die früher nach Taiwan, Malaysia und Singapur gingen, produzieren heute im Perlflussdelta. Angelockt durch staatliche Förderprogramme sind in den vergangenen Jahren Tausende Computer- und Gentechnikspezialisten aus dem Ausland zurück in die Heimat gezogen. „In einigen Forschungsgebieten wie in der Raumfahrt und in der Biotechnik wird China die Kluft zum Westen rasch aufholen“, sagt Fred Hu von Goldman Sachs in Hongkong.

Chinas Aufstieg löst im Rest der Welt auch Angst aus. Wohin steuert die Kommunistische Partei das Land? Stabilisiert China seine Währung weiter – auf Kosten des Euro, der zum Dollar stetig an Wert gewinnt? Nehmen die Chinesen den Europäern die knappen Rohstoffe weg?

China ist heute der zweitgrößte Ölverbraucher der Welt. In den ersten neun Monaten 2004 stieg die Einfuhr um 34 Prozent auf 90 Millionen Tonnen. Seit Beginn der achtziger Jahre ist China vom Agrarstaat zur sechstgrößten Ökonomie der Erde aufgestiegen. Westliche Firmen haben Milliarden investiert. „China wird auch in Zukunft eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften bleiben“, sagt Forscher Hu. Doch es gelten die Spielregeln des Manchester-Kapitalismus: Firmenchefs heuern und feuern nach Belieben, unabhängige Gewerkschaften sind verboten, staatliche Kontrollen sind rar. Die Folgen sind eine große Wohlstandskluft und soziale Spannungen. Während in Shanghai, Peking und Kanton Chinesen von einem VW-Passat träumen, fehlt den Bauern im Hinterland oft das Geld, um ihren Kindern das Schulgeld zu bezahlen.

„Chinas Stabilität beruht einzig auf Wirtschaftswachstum – das weiß auch die Regierung“, sagt Feng Zhongping von dem Pekinger Think-Tank CICIR. Der wachsende Reichtum kaschiert die sozialen Probleme. Gefahr droht auch von Chinas halbmarktwirtschaftlichem Wirtschaftssystem. Die Weltbank und andere Finanzexperten warnen vor dem Berg fauler Kredite, insgesamt mehr als 500 Milliarden US-Dollar, unter denen Chinas Banken zusammenbrechen könnten. „Die eigentliche Gefahr für Europa und die USA ist nicht Chinas Aufstieg – sondern sein Scheitern“, sagt Feng. Eine längere Rezession könnte China weder politisch noch sozial verkraften. Flüchtlingsströme kämen nach Europa, Aufstände könnten das Land destabilisieren. „Ein Scheitern Chinas hätte für die Welt gewaltige Folgen“, warnt Feng.

Harald Maass

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