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Passagiere werden bei ihrer Ankunft am Flughafen «Sultan Iskandar Muda» einem Temperatur-Scan unterzogen.

© Zikri Maulana/SOPA Images via ZUMA Wire/dpa

Coronavirus breitet sich aus: Deutschland gehört zu Ländern mit größtem „Importrisiko“

Wissenschaftler von Humboldt Uni und Robert-Koch-Institut berechnen die Ausbreitung des Coronavirus. Es zeigt sich: Mit dem BER hat Berlin auch einen Vorteil.

Der erste Patient, der sich außerhalb Asiens mit dem Coronavirus angesteckt hat, ist ein Mitarbeiter des bayerischen Autozulieferers Webasto. Dessen größte Fabrik steht in Wuhan, angesteckt hat sich der Mann aber in der Firmenzentrale im Landkreis Starnberg nähe München. Und zwar infizierte er sich bei einer aus Wuhan eingeflogenen Kollegin. Diese zeigte erst Symptome, als sie Deutschland schon wieder verlassen hatte. Es kann bis zu zwei Wochen dauern, bis die Krankheit erkennbar ist, oft sind es rund zehn Tage.

Das gibt dem Virus viel Zeit sich auszubreiten, auch über große Distanzen und Ländergrenzen hinweg. Die Globalisierung kann dabei als Beschleuniger wirken: Je vernetzter ein Land ist, desto höher ist auch das Risiko, dass eine Epidemie vom anderen Ende der Welt innerhalb von Stunden oder Tagen plötzlich ganz nah ist. Großbritannien etwa sucht gerade 2000 Bürger, die erst kürzlich aus der Region rund um Wuhan zurückgekehrt sind, wo die Krankheit ausgebrochen war.

Spätestens seit der globalen Sars-Krise kurz nach der Jahrtausendwende setzten Wissenschaftler vermehrt auf Big-Data-Computersimulationen, um die Ausbreitung von Epidemien vorherzusagen. Dafür füttern sie die Modelle mit zehntausenden Flugverbindungen und Passagierzahlen von Airports. Damals bei Sars und erst vor wenigen Jahren bei Ebola trafen die Prognosen am Ende erstaunlich genau zu.

In Berlin arbeitet gerade ein Team des Robert-Koch-Instituts und der Humboldt-Universität an so einer Risikoanalyse für das Coronavirus. Tagesspiegel Background konnte die ersten Ergebnisse vorab einsehen, ab diesem Mittwoch werden sie veröffentlicht. „Der Luftverkehr spielt eine Schlüsselrolle“, sagte Dirk Brockmann, Physiker und Professor für theoretische Biologie. Für seine Berechnungen füttert er das Computermodell mit den Daten von 3893 Flughäfen und 51.476 Flugverbindungen. Herauskommt kommt ein Virus-„Importrisiko“ für einzelne Länder und Städte.

Deutschland mit seinen engen wirtschaftlichen Verbindungen nach China gehört demnach zu den weltweit 15 Ländern mit dem größten Importrisiko. In Vietnam etwa, einem direkten Nachbarn Chinas, ist diese Gefahr demnach etwas geringer. Europaweit ist das Risiko nur in Frankreich höher als in Deutschland. Das liegt am Pariser Großflughafen „Charles de Gaulles“, wohin viele Direkt- und Umsteigeverbindungen von und nach Asien und China führen.

Glücksfall BER?   

Je größer ein Luftverkehr-Drehkreuz ist, desto höher steigt auch das Risiko, weil viele Passagiere dort ankommen, die eigentlich zu einem anderen Ziel wollen. In Deutschland sind Frankfurt und München entsprechend um ein Vielfaches gefährdeter als Berlin – in der Hauptstadt landen in der Regel nur jene Passagiere aus Asien, die dort auch final hinwollen.

Sie sind aber vorher oft in München oder Frankfurt umgestiegen. „So gesehen hat es auch was Gutes, dass der BER noch geschlossen ist“, sagte Epidemie-Experte Brockmann nur halb im Scherz. Umgekehrt ist aber nicht jedes Drehkreuz automatisch ein Hochrisikogebiet: In Atlanta etwa, einem der weltgrößten Airports, ist das Import-Risiko für den Coronavirus vergleichsweise gering. Der Asienverkehr läuft in den USA stärker über andere Flughäfen. 

[British Airways hat alle Direktflüge von London nach China ausgesetzt. Verfolgen Sie hier die Entwicklungen zur Ausbreitung des Coronavirus im Newsblog.]

In Deutschland sollen jetzt Piloten von Flügen aus China den Tower unmittelbar nach der Landung über den Gesundheitszustand der Reisenden informieren. Dies allerdings würde voraussetzen, dass Piloten oder die Bordcrew anhand äußerer Merkmale von Passagieren auf eine Viruserkrankung schließen können.

Eine andere Maßnahme betrifft nicht nur Flüge aus China, sondern alle Reisenden, die von dort kommen – also auch über Transitländer. Diese müssten ab sofort bei Ankunft in Deutschland Formulare ausfüllen, in denen sie ihre Kontaktdaten angeben, die Fluggesellschaften müssen diese dann 30 Tage vorhalten. Das Ziel ist es, bei späteren Erkrankungen Reisender Menschen ausfindig machen zu können, mit denen sie im Flugzeug Kontakt hatten. Allerdings kann damit kein Ausbruch kontrolliert werden, sondern nur nachträglich nachvollzogen.

Hongkong riegelt die Stadt ab

Mit deutlichem Abstand am größten ist das Ausbreitungsrisiko für Thailand, Taiwan und Hongkong, die darauf bereits reagieren. Hongkong, als Sonderverwaltungszone ein Teil Chinas, will die Grenzen zum Festland teilweise abriegeln: Zug- und Fährverbindungen werden gekappt, die Zahl der Flüge halbiert. Andere asiatische Länder verschärfen die Einreisebedingungen für Chinesen.

„Mit der Analyse der internationalen Flugverbindungen können wir abschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass das Virus in andere Weltregionen gelangt“, erklärt Brockmann. „Je mehr Flugverbindungen es auf einer Route gibt und entsprechend mehr Passagiere auf ihr transportiert werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Patient darunter ist.“ Dabei werden aber nicht nur Direktflüge berücksichtigt, sondern auch alle Umsteigeverbindungen zum Ziel: Ob ein Patient von China direkt nach Deutschland fliegt oder zum Beispiel in Singapur oder Dubai umsteigt, wird also gleichermaßen analysiert.

Das „Import-Risiko“ gibt also die Wahrscheinlichkeit an, mit der ein bereits Infizierter ein bestimmtes Land ansteuert und das Virus so dort ankommt – und nicht, wie hoch dort die Ansteckungsgefahr dort ist. Ein Beispiel: In Frankreich liegt der Wert bei 0,242 Prozent. Das bedeutet, dass von 1000 Infizierten, die Wuhan vor der Flughafenschließung auf dem Luftweg verlassen haben, rechnerisch zwei nach Frankreich geflogen sind. In Deutschland war es einer von 1000 (0,139 Prozent).

China hat mit drastischen Maßnahmen auf die Viruswelle reagiert und nicht nur Wuhan selbst, sondern auch große Teile der Provinz Hubei mit mehreren Millionenstädten unter eine Art XXL-Quarantäne gestellt: Züge, Fernbusse und Fähren stehen still. Auch der internationale Flughafen in Wuhan wurde in der vergangenen Woche geschlossen – etwa drei Wochen nachdem die ersten Fälle aufgetreten waren. Auch das wollen die Forscher nun in ihrem Modell berücksichtigen. Bringt die Verkehrssperre etwas?

„Den Bewegungsradius der Menschen einzuschränken, kann die Dynamik der Ausbreitung verändern“, sagt Biologe Brockmann. Beim Ebola-Ausbruch in Westafrika vor fünf Jahren seien bestimmte Flugverbindungen eingestellt worden, was eine Wirkung zeigte. „Aber wenn eine Reisemöglichkeit wegfällt, suchen sich die Leute oft andere Wege.“ (mit Thomas Trappe)

Felix Wadewitz

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