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Unabkömmlich, aber schlecht bezahlt. Mona Motakef sagt: „ Die Menschen, auf die es gerade ankommt, müssen mehr verdienen.“

© Marcel Kusch/ dpa

Coronavirus-Pandemie schürt Existenzängste: „Fehlt im Job die Anerkennung, empfinden das viele als Scheitern“

Die Soziologinnen Christine Wimbauer und Mona Motakef über die Folgen unsicherer Arbeit – und warum ausgerechnet jene wenig verdienen, die unabkömmlich sind.

Christine Wimbauer, Jahrgang 1973, ist Soziologin und Geschlechterforscherin. Seit März 2015 ist sie Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mona Motakef, Jahrgang 1977, arbeitet an der Humboldt-Universität. Ihre Schwerpunkte sind Erwerbsarbeit, Geschlechterforschung und soziale Ungleichheit.

Zurzeit fürchten viele um ihren Job, müssen mit weniger Geld zurechtkommen. Sie haben sich jahrelang mit prekärer Arbeit beschäftigt und ein Buch darüber verfasst. Was folgt auf permanente Unsicherheit?
Wimbauer: Arbeit hat vor allem zwei Funktionen. Die eine ist ökonomisch-materieller Art. Man verdient Geld, sichert damit sein Leben ab. Hinzu kommt die soziale Funktion. Jemand findet sinnvoll, was er tut, fühlt sich zugehörig, anerkannt.

Bei prekärer Arbeit sind beide Komponenten stark eingeschränkt. Oft bekommen die Menschen wenig Lohn und Wertschätzung. Eine unserer Interviewpartnerinnen sagte, prekäre Arbeit löchere die Gesellschaft von innen aus.

Sie haben besonders intensiv untersucht, warum es den Menschen an Anerkennung mangelt. Wieso ist das so wichtig?
Wimbauer: Menschen sind soziale Wesen und zutiefst angewiesen auf Anerkennung durch andere. Eine Quelle dafür ist Liebe – durch einen Partner, eine Partnerin, Freunde oder Familie. Ich werde dafür geliebt, wer und wie ich bin. Oder zumindest für das, was ich tue.

In dem Fall kommt es in unserer Gesellschaft enorm darauf an, was für einen Job ich habe und wie viel ich leiste. Muße und die Sorge um andere sind nicht besonders relevant.

Prekär Beschäftigte beklagen besonders oft ein Defizit.
Motakef: Bei den meisten ist es so: Sie arbeiten recht hart und ihr Geld reicht trotzdem nicht. Es zahlt sich nicht aus, wird nicht angesehen. Spürbar. Eine Verkäuferin sagte über ihren Job: „Ist nicht so weit unten wie eine Klofrau, aber na ja.“

Manche machen auch große Abstriche im Privaten, zum Beispiel in der Pflege, mit langen Schichten, aber auch das wird nicht honoriert. Fehlt im Job Anerkennung, empfinden das viele als ein Scheitern. Sie sind verletzt, frustriert.

Christine Wimbauer
Christine Wimbauer

© privat

Momentan werden Kassiererinnen und Pflegende bejubelt.
Motakef: Die Anerkennung für diese Berufsgruppen ist mehr als überfällig – mit ganz vielen Ausrufezeichen. Dass jetzt auf Balkonen für sie geklatscht wird, dass Kanzlerin Merkel sie in ihrer Fernsehansprache erwähnt, ist erst mal gut.

Diese symbolische Anerkennung muss aber auch materiell eingelöst werden. Sonst ist das Klatschen zynisch. Die Menschen, auf die es gerade ankommt, müssen mehr verdienen. Es muss endlich etwas gegen die Personalknappheit getan werden, gerade in Kliniken und Pflegeheimen. Die Frage steht jetzt im Raum, was während oder nach Corona politisch geschieht.

Warum werden ausgerechnet jene schlecht bezahlt, die unabkömmlich sind?
Wimbauer: Es gibt dafür viele komplexe Gründe. Einige Branchen sind prekär, weil die Beschäftigten keine oder nur wenige Qualifikationen brauchen. Das macht sie billig. Ein anderer Grund ist, wie sich Sorgearbeit historisch entwickelt hat. Über Hunderte von Jahren erledigten Frauen das im häuslichen Bereich – unsichtbar und ohne Lohn.

Nicht nur die Arbeit scheint gerade in Gefahr, sondern alle Bereiche des Lebens, die Gesundheit, das soziale Miteinander. Ist das ganze Land bald depressiv?
Wimbauer: Es kann für die Psyche tatsächlich dann problematisch werden, wenn nicht nur ein Bereich, sondern mehrere Lebensbereiche brüchig sind. Etliche Therapeutinnen und Therapeuten gehen davon aus, dass durch die Pandemie Depressionen und andere psychische Erkrankungen deutlich zunehmen werden.

Wir erkennen gerade alle, wie verletzbar wir sind, fühlen uns womöglich einsam, sorgen uns um geliebte Menschen. Die Zukunft scheint düster. Existenzängste weiten sich in die Mittelschicht aus.

Mona Motakef
Mona Motakef

© Lukas Klose

Was hilft gegen die Angst?
Wimbauer: Zunächst hilft eine ökonomische Grundabsicherung, was durch die vielen Soforthilfen gerade ansatzweise passiert. Dass etliche Privatinsolvenz anmelden müssen, auf der Straße landen, muss verhindert werden. Es braucht außerdem das Gefühl, nicht allein zu sein und nicht alleingelassen zu werden. Das bedeutet Solidarität im Großen – und im Kleinen durch Freunde und die Familie.

Deutschland ist ein Sozialstaat. Es gibt Kurzarbeitergeld, das Jobcenter stockt den Lohn wenn nötig auf oder zahlt Grundsicherung. Der Gang zum Amt fällt den meisten allerdings schwer.
Motakef: Unsere Interviews zeigen: Es kommt darauf an, ob man Arbeitslosengeld oder Hartz IV bezieht, eine Ausbildung gemacht hat oder nicht. Viele haben sich dankbar gezeigt, finden es toll, dass wir Sozialleistungen haben. Zugleich betonten alle, die Gelder nur im Notfall zu beziehen, nur übergangsweise.

Alle wollten sich so weit wie möglich vom Bild des sogenannten faulen Arbeitslosen distanzieren. Selbst wenn sie aufstocken müssen, weil sie schlecht bezahlt werden, schämen sich die Menschen. Statt es als den Skandal zu sehen, der er ist.

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In Ihrer Studie kommt heraus, dass Paarbeziehungen die Probleme des Prekären manchmal kompensieren und manchmal verstärken.

Motakef: Wir hatten in der Studie ein paar Paare, die sich gegenseitig stützen. Eins hatte keine Kinder, war recht jung, beides Pflegende. Die beiden hatten den Eindruck, gesellschaftlich nicht groß geschätzt zu werden, aber machten sich gegenseitig ihre Leistungen sichtbar. Das half. Einen starken Zusammenhalt sahen wir auch bei einem Paar, das sich zusammen für die Selbstständigkeit entschied. Mit allen Risiken.

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Welches Verhalten schadet in der Krise?
Motakef: Oft wird es zum Problem, wenn Frauen sich daheim wie selbstverständlich um alles kümmern sollen. Eine Interviewte fühlte sich enorm im Stich gelassen von ihrem Mann, sah, wie er sich weiter verwirklichte, während sie sich um die drei Kinder kümmerte. Die Paarbeziehung war vor dem Ende. Es ist enorm wichtig, Haushalt und Erziehung auf den Schultern beider zu verteilen. In der Krise bekommen manche Väter jetzt zumindest mal mit, was am Tag alles anfällt.

Paare haben es gerade nicht leicht: Sie sind womöglich rund um die Uhr zusammen. Ein Pulverfass?
Wimbauer: Der Stress ist für Paare gerade enorm hoch. Wer prekär lebt, erlebt häufig ein Erschöpfungssyndrom. Jetzt ziehen sich ihre Probleme quer durch die Bevölkerung. Viele müssen vielleicht Kinder betreuen, unterrichten, werden zugleich in Kurzarbeit geschickt oder arbeitslos. Sie können nicht raus, mal durchatmen. Die Haut wird dünner. Zahlen zu China zeigen: Die Scheidungsrate steigt nach der Quarantäne.

Für Männer, schreiben Sie, kann es zum Problem werden, wenn sie ihrer Ernährerrolle nicht gerecht werden können.
Motakef: Männlichkeit ist so eng mit Erwerbstätigkeit verknüpft. Beides ist ohne einander kaum denkbar. Fast alle männlichen Interviewpartner schämten sich, wenn sie eine Familie nicht ernähren konnten oder könnten. Ein ganz Verbitterter meinte, er fände wegen seines geringen Gehalts keine Frau. Die suchten einen Versorger.

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Es wird gerade über das Risiko von mehr häuslicher Gewalt gesprochen.
Wimbauer: Kommen viele Sorgen auf engem Raum zusammen, gibt es natürlich ein hohes Konfliktpotenzial. Für verbalen Streit, Tränen, und im schlimmsten Fall auch für körperliche Übergriffe. Meistens richtet sich die Gewalt dann gegen Frauen und Kinder.

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Was ist mit jenen, die allein leben? Freunde treffen ist derzeit schwer.
Wimbauer: Man kann ja noch telefonieren und Freunde per Videoanruf sehen. Dramatisch wird es aber für die, die Freunde vernachlässigt haben, keine Familie haben. Denen droht die große Einsamkeit. Ich denke da auch an alte Menschen im Pflegeheim, die vielleicht sogar ihren letzten Weg antreten müssen. Allein.

Den meisten Ihrer Interviewpartner bedeutet Arbeit viel. Sie fühlen sich nur mit einem Job als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Wird sich dieser extreme Status durch die Krise verändern?
Motakef: Leider nein. Viele Menschen werden jetzt erleben, was prekäre Arbeit bedeutet, wie es ist, seine Rechnungen nur schwer begleichen zu können. Sie werden sich nach einem ganz normalen, sicheren Job zurücksehnen.

Dabei wäre es wünschenswert, Erwerbsarbeit nicht mehr als die große Anerkennungsquelle zu sehen. Dass die Sorge um andere Menschen mehr ins Zentrum gerückt und geschätzt wird. Jene Arbeit, die plötzlich als systemrelevant bezeichnet wird, als nicht verzichtbar.

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