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Wirtschaft: Das Altern beginnt vor der Geburt

Wie groß wir werden, wann wir sterben – vieles entscheidet sich schon im Mutterleib

Von David Wessels Wissenschaftler, die die Entwicklung des Menschen rekonstruieren, indem sie die Größe und Gesundheit unserer Vorfahren vergleichen, sagen, das Bild vom Affen, der sich über den gebeugten, behaarten Höhlenmenschen hin zum großen, aufrechten modernen Menschen entwickele, sei falsch. Die vergangenen drei Jahrhunderte hätten zwar größere, gesündere Menschen hervorgebracht, aber in der Geschichte wechselten sich Perioden mit verbesserter Statur, Gesundheit und Lebenserwartung und Perioden mit Gleichstand oder Rückgang ab.

Die Durchschnittsgröße von 1830 geborenen amerikanischen Soldaten habe beispielsweise 1,73 Meter betragen, bei den 1890 geborenen dagegen nur 1,69 Meter – dokumentieren die Wirtschaftshistoriker Richard Steckel und Dora Costa. Unter anderem haben Krankheiten, die Mitte des 19. Jahrhunderts durch die zunehmende Migration innerhalb des Landes verbreitet wurden, ihren Tribut gefordert.

Durch die Rekonstruktion der biologischen Geschichte lässt sich das Auf und Ab von Lebensstandards und die Kluft zwischen Reich und Arm klar erkennen. Im 19. Jahrhundert waren die britischen Männer der Oberschicht weit größer als ihre Landsmänner aus der Unterschicht, weil sie nicht andauernd hungern mussten. Als sich die Nahrung der Armen verbesserte, wurden ihre Kinder größer und die Durchschnittsgröße der britischen Männer nahm zu. Die Gene spielen eine große Rolle, was die individuelle Größe angeht, aber Gesundheit, Ernährung und Umwelt beeinflussen den Durchschnitt der Gesamtbevölkerung.

Sind wir, die Nutznießer eines bemerkenswerten medizinischen Fortschritts und Wohlstands, auf dem Weg zu einem weiteren Spurt in Sachen Größe, Gesundheit und Lebenserwartung? Die Antwort könnte zu einem überraschend großen Anteil im Mutterleib liegen.

Für Wirtschaftshistoriker beginnt das Altern vor der Geburt. Nicht nur, weil die moderne Medizin Krankheiten bekämpft, an denen unsere Großeltern gestorben sind, leben wir länger und besser, sondern auch, weil unsere Mütter besser ernährt und gesünder sind und es uns als Kleinkindern besser ging. Zwei Beispiele zeigen das.

Statistiken über die Männer, die im amerikanischen Bürgerkrieg für die Nordstaaten gekämpft und bis mindestens 1900 gelebt haben, belegen laut Costa und anderen Forschern am Massachusetts Institute of Technology, dass diejenigen, die im Frühjahr und Sommer geboren wurden, früher starben. Es scheint, als hätten ihre Mütter im Winter nicht so viel zu essen und mehr Atemwegserkrankungen gehabt; Frühlingsbabys konnten zudem eher Infektionskrankheiten bekommen.

Douglas Almond von der Universität Columbia entdeckte, dass für Söhne von Müttern, die in der Schwangerschaft während der Grippeepidemie 1918 erkrankten, eine 20 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit bestand, als Erwachsene arbeitsunfähig zu werden. Diejenigen, die bis zu den 70er Jahren überlebten, starben im Schnitt drei Jahre früher als Männer, deren Mütter von der Grippe verschont geblieben waren.

Das war damals. Wie wird es weitergehen? Nobelpreisträger Robert Fogel von der Universität Chicago verbreitet Optimismus. „Die Lebenserwartung wird während des 21. Jahrhunderts vielleicht in gleichem Maße ansteigen wie im 20. Jahrhundert“, sagt er. Damals stieg die Lebenserwartung bei der Geburt von 48 auf 77 Jahre an. „Am Ende des Jahrhunderts werden wir dem Leben vielleicht 30 Jahre hinzufügen“, prophezeit er.

Sein Optimismus ist berechtigt. Der Geburtsmonat spielt kaum noch eine Rolle: Die Ernährung im Winter ist besser geworden, sommertypische Krankheiten wurden besiegt. Und der Beginn schwächender chronischer Krankheiten kommt später. Ein weißer Mann Anfang 60 sei zweieinhalb mal eher frei von chronischen Krankheiten als ein vergleichbarer Mann vor hundert Jahren, sagt Fogel.

Die Wissenschaftler haben aber noch einen überraschenden Trend aufgedeckt: Die Erwachsenen in Nordeuropa sind heute größer als die Amerikaner – und das liegt nicht an den Einwanderern mit kleinerer Statur. Diese Tatsache nährt unweigerlich Spekulationen über die schlechte Auswirkung von Fastfood, Fettleibigkeit und mangelnder Bewegung in Amerika. Steckel von der Ohio State University untersucht seit kurzem die Größe von Kindern. Erste Ergebnisse zeigen, dass vierjährige amerikanische Kinder im Schnitt 3,8 Zentimeter kleiner sind als Dänen, Holländer und Schweden. „Kinder haben etwa die gleiche Größe, wenn sie unter den gleichen ökonomischen Umständen groß werden. Wenn die Kinder mit vier Jahren klein sind, liegt das an pre- oder postnatalen Umständen“, sagt er.

Was ist die Ursache? Er weiß es bislang nicht. Aber er denkt daran, dass die ungleichen Lebensverhältnisse im Europa des 19. Jahrhunderts sich in der Durchschnittsgröße der Bevölkerung widerspiegelten und fragt sich, ob die Ungleichheit von medizinischer Versorgung und Lebensbedingungen in den USA die Wurzel auch dieses Phänomens sein könnte.

Übersetzt und gekürzt von Tina Specht (Catering), Svenja Weidenfeld (Größe), Karen Wientgen (Deutschland), Christian Frobenius (Türkei, IWF).

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