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Auslaufmodell. Die Veritas-Nähmaschinen waren im Osten gefragt. Heute ist das Unternehmen tot.

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Das Ende einer Traditionsmarke: Die Wahrheit über Veritas

Veritas-Nähmaschinen waren nicht nur in der DDR bekannt. Doch nach der Währungsreform musste das Unternehmen dicht machen.

Von weitem sieht der Schriftzug „Veritas“ auf der großen Fabrikhalle unweit des Zentrums von Wittenberge ganz passabel aus. Doch je näher man kommt, desto mehr verblasst der Schein. Eine Patina hat sich auf die Buchstaben gelegt, die einst den ganzen Stolz der Elbestadt im Nordwesten Brandenburgs verkörperten. „Veritas“ stand für das einzige Nähmaschinenwerk der DDR, in dem schon 1965 alle 25 Sekunden eine fertige Maschine das Montageband verließ. Nahezu die gesamte Produktion ging in den Export, vor allem in die Sowjetunion, nach Bulgarien und in andere Ostblockländer, aber auch in die Bundesrepublik und nach Großbritannien. In der DDR dagegen wurden die Maschinen wie viele andere rare Produkte als „Goldstaub“ gehandelt und gegen andere Dinge eingetauscht. Selbst Ersatzteile hatten einen gleichen Wert wie eine Auspuffanlage oder eine Lichtmaschine für den Trabant. Selbst genähte Kleider, Hosen oder Blusen standen hoch im Kurs.

Der Niedergang einer Stadt

Heute erinnert nichts mehr an die einstige Massenproduktion, deren Ende mit der Währungsunion eingeleitet wurde. 3.000 Menschen verloren ihren Arbeitsplatz, als im Dezember 1991 das Licht in den Hallen endgültig ausging. Wittenberge verlor aber noch weit mehr als die 3.000 Veritas-Jobs: Wie in der ganzen DDR üblich, hingen auch an diesem Großbetrieb Hunderte weiterer Arbeitsplätze in der Kinderbetreuung, in der Kultur, in der medizinischen Versorgung, in Ferienhäusern oder in der Küche vom Werk ab. Da fast zur gleichen Zeit auch das benachbarte Zellstoffwerk und die Ölmühle ihre Tore schlossen, erlebte Wittenberge ein regelrechtes Desaster. Ein Drittel der Einwohner wanderte für immer ab, sodass die Stadt heute nur noch 18.000 Einwohner zählt.
Beim Gang durch die leeren Hallen mit dem Verwalter des heute unter dem Namen Veritas-Park firmierenden Geländes, Ralf von Hagen, stellt sich sofort das auch von anderen leeren Betrieben bekannte Gefühl ein, als hätten die Monteure gerade erst ihren Arbeitsplatz verlassen. Schilder weisen den Weg zum Frühstücksraum oder fordern dazu auf, eine Tür „wegen Zugluft ständig geschlossen zu halten“. Beim genauen Hinsehen sind noch Spuren eines Projektes von Künstlerinnen zu entdecken, die sich vor einiger Zeit hier mit dem Ende des Nähmaschinenwerks auseinander gesetzt hatten. So sind in einem Waschbecken noch Reste von Pflanzen zu entdecken, die als symbolische Wachstumskerne eingebracht worden waren.

Eine filmreife Kulisse

Als tolle Filmkulisse bietet sich das unterirdische Tunnelsystem an, das Mitte der 1920er Jahre für den sicheren Transport der Einzelteile und der fertigen Maschinen von den Konstrukteuren der amerikanischen Singer-Werke angelegt worden war. Auch hier unten ist noch alles intakt. Fast scheint es so, als müsste jeden Augenblick ein Elektrokarren um die Ecke gefahren kommen. Doch der Verwalter lächelt. „Wir sind in den kilometerlangen Gängen ganz allein“, sagt von Hagen. Auf dem Gelände sind zwar rund 50 Firmen mit rund 400 Beschäftigten ansässig, aber die nutzen andere Gebäudeteile.
Für weitere Nachforschungen in der Geschichte empfiehlt er einen Abstecher in den großen Uhrenturm, der für einen großen Wasserbehälter gebaut worden war und heute als Wahrzeichen Wittenberges gilt. Tatsächlich haben hier rührige Werksangehörige wichtige Dokumente aus der bewegten Historie des Werkes zu Singer- und zu Veritas-Zeiten zusammengetragen. In Gesprächen mit den Veteranen müssen diese nicht lange nach der Schuldigen des Endes nach der Währungsunion nachdenken. Die Treuhandanstalt habe keine Perspektive für eine Fortsetzung der erfolgreichen Produktion gesehen.

Eine filmreife Kulisse. Das frühere Veritas-Werk in Wittenberge.
Eine filmreife Kulisse. Das frühere Veritas-Werk in Wittenberge.

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Tatsächlich erwies sich die einseitige Ausrichtung auf den Export so wie in anderen Branchen als entscheidender Nachteil. Denn nach der Umstellung auf DM-Preise konnten die bisherigen Abnehmer zwischen Moskau und Sofia die Waren nicht mehr bezahlen und auch das vorher so florierende Tauschgeschäft von Maschinen gegen Erdöl, Erdgas und andere Rohstoffe funktionierte nicht mehr. Für den westdeutschen Markt funktionierten nun die vorher künstlich niedrig gehaltenen Preise nicht mehr. Dazu kamen die Warenfülle und die Wegwerfgesellschaft, in der die einst so geliebte Nähmaschine bald in die Abstellkammer verfrachtet wurde und nicht mehr erneuert wurde. Ganz verschwunden ist der Namen Veritas nicht ganz. Der Wittenberger Fußballverein trägt noch diesen Namen und in China stellt ein Werk Nähmaschinen unter diesem Namen her – mit einer Jahresproduktion von 14 Millionen Stück.

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