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Wirtschaft: Das Werk der Integration

Im Bahntechnik-Betrieb von Siemens in Treptow arbeiten Schwerbehinderte in der Produktion

Berlin - Maik Schigallies hat jetzt keine Zeit für Fragen. „Ich muss Material holen“, sagt er und macht sich auf ins Kleinteilelager. Das liegt in der Mitte des 5000 Quadratmeter großen Werkes, in dem Siemens in Berlin-Treptow Infrastrukturtechnik für Eisenbahnen baut. Wenig später ist er zurück, hat Schrauben, Muttern und Federringe in bunten Boxen mitgebracht. Auf einer Liste steht genau, welche Teile und wie viele davon er in eine Tüte packen muss. Akribisch arbeitet Schigallies die Liste ab. Wofür das Material ist? „Das wissen wir nicht“, sagt er. „Vielleicht für einen Weichenantrieb.“ Trotzdem muss der Inhalt stimmen, sonst gerät die Produktion ins Stocken.

Schigallies ist 38 Jahre alt und arbeitet seit 21 Jahren im Werk an der Elsenstraße. Er war schon hier, bevor Siemens den Standort nach der Wende vom VEB Werk für Signal- und Sicherungstechnik übernahm. Auf dem Schild über der Abteilung, in der er das Material für die Produktion zusammenstellt, steht: „Werkstatt für Menschen mit Behinderung“. Intern wird die Abteilung „Reha“ genannt. Schigallies ist nicht zur Rehabilitation hier, er ist geistig behindert, von Kindheit an. Er und seine sechs Kollegen in der Werkstatt gehören zu den 441 schwerbehinderten Mitarbeitern, die Siemens in Berlin beschäftigt. Ziel des Siemens-Vorstands in München ist es, die Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen im Unternehmen weiter auszubauen.

„Wir erfüllen einen Dienst an der Gesellschaft“, erklärt Werkstattleiter Sven Meusel. „Aber die Arbeit ist ja auch da. Für die Mitarbeiter in der Produktion bedeutet die Zuarbeit aus der Reha eine enorme Erleichterung und Zeitersparnis.“ Um diese Arbeiten an eine externe Firma zu geben, dazu sind die Stückzahlen zu klein. Außerdem ist Flexibilität gefragt. „Jeder Auftrag ist anders“, bestätigt Schigallies. Und weil die Arbeit so abwechslungsreich sei, mache sie immer noch Spaß. „Ich komme manchmal ganz schön ins Schwitzen, um schnell genug neue Aufträge zu besorgen“, sagt seine Teamleiterin Karin Leiß. Zwar arbeitet ihr kleines Team nicht nach Zeitvorgaben wie die anderen Mitarbeiter im Werk. Aber ihr Team, sagt sie, „ ist sehr fleißig“.

Im vergangenen Geschäftsjahr beschäftigte die Siemens AG in Deutschland 4400 Schwerbehinderte. Das entspricht 4,2 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Siemens-Chef Peter Löscher will die Quote weiter steigern. Im Werk in der Elsenstraße liegt sie bereits bei rund 5,4 Prozent und damit über der gesetzlichen Vorgabe von fünf Prozent. „Herr Löscher ist seit Jahrzehnten der erste Vorstandschef, der sich persönlich um das Thema kümmert“, sagt Gerlinde Aumiller, die Vorsitzende der Schwerbehindertenvertretung im Unternehmen.

Löscher sei auch der erste Konzernchef gewesen, der zur Jahresversammlung der Schwerbehindertenvertretung gekommen ist. „Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, schwerbehinderte Menschen einzustellen – und das trifft ganz besonders auf schwerbehinderte junge Menschen zu“, sagte Löscher im Januar in Berlin. Und er sagte auch warum: „Schwerbehinderte bereichern unser Unternehmen. Denn sie bringen einen einzigartigen Erfahrungsschatz mit: Viele haben große Widrigkeiten und Hindernisse überwunden. Sie machen ganz andere Erfahrungen als nicht behinderte Menschen. Diese Erfahrungen sind gut für unser Unternehmen.“

Aumiller hofft, dass es ihr gelingt, mit Löscher gemeinsam ein anderes Bild der behinderten Menschen im Unternehmen zu etablieren. „Behinderung ist nichts Besonderes“, sagt Aumiller. „Es kann jeden treffen.“ Etwa durch eine schwere Erkrankung oder einen Unfall. Je älter die Menschen werden, desto häufiger müssen sie mit Einschränkungen klarkommen. „Mehr als die Hälfte der Menschen mit Behinderung ist älter als 50 Jahre“, sagt Aumiller. Dabei ist eine Behinderung nicht immer offensichtlich, wie ein Blindenstock oder ein Rollstuhl. Viele Berufskrankheiten oder psychische Erkrankungen sieht man nicht. Aumiller geht es darum, die Barrieren in den Köpfen der Menschen zu beseitigen: „Menschen mit Behinderung gehören einfach dazu – auf allen Ebenen des Unternehmens.“ Bereits im Mai 2009 hat Siemens eine entsprechende Integrationsvereinbarung für alle deutschen Standorte abgeschlossen.

In Berlin suchten nach Angaben der Agentur für Arbeit im Januar 8873 schwerbehinderte Menschen eine Arbeit. Im Januar 2010 waren es 8463 gewesen. Obwohl die Zahl der Arbeitslosen zuletzt insgesamt gesunken ist, hat sich die Jobsituation der Schwerbehinderten in der Stadt also verschlechtert. Dabei übererfüllen die Berliner sogar die Norm. Betriebe mit mehr als 20 Mitarbeitern müssen fünf Prozent Schwerbehinderte beschäftigen – oder eine Ausgleichsabgabe zahlen. Das sagt das Gesetz. Das entsprach bei der letzten Zählung 2008 in Berlin 44 145 Pflichtarbeitsplätzen bei öffentlichen und privaten Unternehmen. Tatsächlich gab es jedoch sogar rund 46 106 Plätze. Dabei zahlten die Unternehmen für 9556 Arbeitsplätze eine Ausgleichsabgabe. Das bedeutet, dass einige Firmen deutlich mehr Schwerbehinderte beschäftigen, als sie müssten. Andere wiederum liegen weit darunter – oder beschäftigen gar keine.

Für Siemens geht es um mehr als soziale Verantwortung. „Es hat auch handfeste ökonomische Gründe“, sagt Aumiller. „Wir müssen uns gemeinsam dem demografischen Wandel stellen.“ Weil immer weniger junge Menschen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, müssen die älteren Menschen länger im Unternehmen gehalten werden. Und bei zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit einer Behinderung. „Es kommt eine unglaubliche Welle auf uns zu“, sagt Aumiller. „Da müssen wir vorher etwas tun.“ Zum Beispiel Arbeitsplätze und Arbeitszeiten anders gestalten, so dass behinderte Mitarbeiter damit klarkommen. Zugleich müsse die Integration bereits bei der Ausbildung und Qualifizierung von schwerbehinderten Jugendlichen anfangen. „Wir brauchen ein ganzheitliches Konzept“, sagt Aumiller. Sie sieht Siemens auf gutem Weg. Aber noch sei die Botschaft nicht bei allen angekommen.

„Hauptsache man kann arbeiten“, sagt Maik Schigallies im Treptower Werk ganz pragmatisch. So sieht das auch seine Kollegin Eleonore Hain, die Bürokauffrau gelernt hat, bevor sie krank wurde. Seit 1983 arbeitet die 48-Jährige in der Elsenstraße. „Zu DDR-Zeiten waren es meist primitive manuelle Arbeiten“, sagt sie. Inzwischen habe sie einiges dazugelernt. „Ich möchte unbedingt arbeiten und unter Leuten sein. Auf keinen Fall will ich zu Hause rumsitzen.“

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