zum Hauptinhalt

Wirtschaft: Dem Drama an der Wall Street folgen die Familiendramen

Jetzt müssen sogar Familienrichter über die richtige Anlagestrategie der Amerikaner entscheiden

Von Jeffrey Zaslow, Ianthe Jeanne Dugan und Shirley Leung

Sue Maniloff wollte es immer sehen. In den späten 90er Jahren erzählte ihr Ehemann ihr immer wieder, wie viel Geld die Familie an der Börse machte. „Hol es“, sagte sie dann zu ihm, „ich will es sehen. Es ist mir egal, was auf dem Papier steht.“

Wie die meisten amerikanischen Anleger blieb auch das Ehepaar aus einer Vorstadt von Detroit am Markt, die Aktien wurden gehalten, nicht zu Bargeld gemacht. Jetzt, wo der Aktienindex der New Yorker Börse seit dem 5. Juli drastisch gefallen ist, gibt es noch weniger zu sehen – ein ständiger Zankapfel im Hause Maniloff.

Der Kurssturz ist überall ein Thema: beim Abendessen, bei der Eheberatung, in Mediationssitzungen, bei Familienfeiern. In den goldenen 90er-Jahren sagten Millionen zu ihrer besseren Hälfte: „Schatz, vielleicht sollten wir unsere Gewinne mitnehmen." Jetzt waschen sie ihren Liebsten die Köpfe. Ihr Vorwurf: „Ich habe dir gesagt, wir sollen verkaufen!"

Suzanne Wenzlaff, eine 59-jährige Zahnärztin aus Los Angeles, hatte eine klare Abmachung mit ihrem 65-jährigen Mann Lou. Es war ausgemacht, dass er nur 25 Prozent seiner Rente an der Technologiebörse anlegen würde. Aber ihr Mann, ebenfalls Zahnarzt, meinte, seine ganzen Ersparnisse in Technologiewerte stecken zu müssen. Jetzt ist seine Rente im Vergleich zum Vorjahr nur noch 25 Prozent wert. „Ich fühle mich betrogen“, sagt Frau Wenzlaff. „Es war seine Rente, aber es ist dennoch unser Geld.“ Lou Wenzlaff sagt, er werde sich bessern. „Wir sind seit 36 Jahren zusammen. Ich will, dass wir zusammen bleiben." Börsenverlierern bleibt ohnehin keine andere Wahl. Scheidungsanwälte sagen, viele Mandanten könnten sich eine Scheidung nicht mehr leisten: Zum Teilen sei nicht genug da.

Andere Scheidungswillige sind dagegen froh über den Börsensturz. Sie sehen es als Gelegenheit, dem Ex eins auszuwischen. „Viele sagen: Das ist ein guter Zeitpunkt, das Vermögen aufzuteilen. Mein Ehegatte wird weniger bekommen, wenn wir jetzt auseinander gehen.“, sagt Ronald Bavero, Anwalt aus White Plains, New York.

Die vergangenen Wochen waren hart für alle, die mit anhängigen Scheidungsverfahren zu tun haben. Solange Mann und Frau nicht an einem Strang ziehen wollen, schrumpfen ihre Portefeuilles täglich. „Man kriegt hysterische Schriftsätze von der Gegenseite, die sagen: Verkaufen!“, sagt Nina Vitek, Rechtsanwältin aus Milwaukee. In Scheidung lebende Paare versuchen sogar, ihre Anlagestrategie gerichtlich durchzusetzen – ein Albtraum für Familienrichter. „Richter sind keine Börsenanalysten, die entscheiden, ob verkauft wird“, sagt Frau Vitek.

Einige Familien treffen außergerichtliche Vereinbarungen. Arnold Tuzman, ein Überlebender des Holocausts, sagt, dass er im September 2000 ein Aktienportefeuille im Wert von 18 Millionen US-Dollar hatte, das wegen großer Anteile an Enron und Global Crossing jetzt nur noch 1,5 Millionen Dollar wert ist. Außer sich über seine Verluste, konnte der 78-Jährige nicht mehr richtig schlafen und essen. Vor zwei Wochen haben seine drei Kinder entschieden, dass es jetzt reicht. „Sie waren um meine Gesundheit besorgt und haben mir gesagt: Papa, du bist mit sieben Dollar in dieses Land gekommen und hast dir den Hintern abgearbeitet. Aber du bist uns mehr wert als das Geld.“ Sie hatten eine Erklärung vorbereitet und bestanden darauf, dass er sie unterzeichne. Es war das Versprechen, dass er aus dem Markt aussteigen werde.

„Sie können sich nicht vorstellen, wie sie mich unter Druck gesetzt haben“, sagt er. „Sie haben mir gesagt: Wir kennen dich. Du wirst immer denken, dass du das Geld zurückbekommen kannst.“ Unter Tränen unterschrieb er die Vereinbarung.

Etwas Gutes hat der Kurssturz an den Börsen aber doch: Viele Menschen, die sich schnell scheiden lassen würden, wenn der Aktienindex noch über 11000 Punkten stände, wollen jetzt durchhalten. „Die derzeitige Krise ist eine gute Gelegenheit, um an seiner Ehe zu arbeiten“, meint Tracey Stulberg, Familientherapeut aus Birmingham, Michigan.

Herr Tuzman sagt, seine Frau und seine Kinder seien erleichtert, dass er die Vereinbarung unterschrieben habe. Dennoch muss er zugeben, dass es ihm schwer fällt, sich an die Abmachung zu halten. „Ich habe ihnen mein Wort gegeben“, sagt er. „Aber ich musste ihnen eine Notlüge erzählen. Ich bin raus aus dem Markt, aber nicht ganz. Ich hoffe, mein Vermögen kann sich doch noch erholen.“

Übersetzt und gekürzt von Tina Specht (Kurssturz), Matthias Petermann (Schröder), Christian Frobenius (Kapitalismus, Montanunion) und Svenja Weidenfeld (Familiendramen)

NAME

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false