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Die ehemalige US-Abhöranlage auf dem Teufelsberg. Im Kalten Krieg galt Berlin weithin als Spionagehauptstadt.

© dpa

Der Abhörskandal und seine Folgen: US-Handelsverbands-Chef: „Spionage ist älter als die Pyramiden“

William Reinsch, Chef des größten US-Handelsverbandes NFTC, spricht im Interview über die Abhöraffäre und mögliche Folgen für das geplante Transatlantische Wirtschaftsabkommen.

Herr Reinsch, die Abhöraffäre gefährdet den Beginn der Verhandlungen über das Transatlantische Wirtschaftsabkommen. Zu Recht?
Nein. Eigentlich geht es um zwei Vorwürfe. Der mögliche Bruch der Datenschutzrechte von Bürgern ist der schwerer wiegende. Das Ausspionieren von Diplomaten kann man dagegen ignorieren. Diese Praxis ist älter als die Pyramiden. Alle Regierungen tun das. Amerikaner spionieren ihre Freunde aus. Und unsere Freunde, da habe ich nicht den geringsten Zweifel, spionieren uns aus. Jeder weiß das. Wenn es aber herauskommt, reagiert das Opfer mit gespielter Empörung. So etwas gefährdet die Verhandlungen nicht. Die Überwachung von Bürgern ist ernster. Sie werden ihre Regierungen fragen, was sie dagegen tun. Es ist einfach, jetzt über die USA herzuziehen. Das tun auch Regierungen, die selbst keine sauberen Hände haben. Die Deutschen und Franzosen sollten ihre Regierungen fragen, was die so alles anstellen.

Also keine Auswirkungen auf das Transatlantische Wirtschaftsabkommen TTIP?
Doch. Wir sehen erneut, dass Amerikaner und Europäer verschiedene Vorstellungen von Datenschutz haben. Das kann in den Verhandlungen zum schwierigsten Problem werden. Außerdem liefert die Affäre den Gegnern einen Vorwand, um gegen TTIP zu protestieren. Ganz praktisch: Wer auf Amazon kauft, hinterlässt seine finanziellen Daten im Internet. Wer beruflich auf die andere Seite des Atlantiks zieht und dort eine Wohnung mietet, hinterlässt persönliche Daten. Das passiert millionenfach. Wenn das jetzt aber zu einem Datenschutzproblem gemacht wird, können die Wirtschaftsbeziehungen schweren Schaden nehmen.

Was ist der Nutzen von TTIP?
Der größte Vorteil sind die Einsparungen durch die Harmonisierung der Industriestandards. Bisher werden die meisten Produkte in verschiedenen Varianten für den europäischen und den US-Markt hergestellt, weil die Vorschriften für Sicherheit, Gesundheit und anderes sich unterscheiden. Es wäre billiger, dasselbe Produkt nach einem gemeinsamen Standard anzubieten. Wie hoch die Einsparungen wären, ist allerdings schwer zu berechnen

Kann man eine Größenordnung nennen?
Ich kann das nicht. Forscher nennen Zahlen bis zu 180 Milliarden Dollar für beide Seiten und Millionen Arbeitsplätze. Aber eines wissen wir aus Erfahrung: Jede Schätzung ist falsch. In der Tokio-Handelsrunde wurden die Vorteile viel zu hoch eingeschätzt, im Fall der Nordamerikanischen Freihandelszone Nafta eher zu niedrig.

Unbestritten ist: TTIP bringt ökonomische Vorteile. Warum ist dieses Abkommen dann nicht längst geschlossen worden?
Das ist die entscheidende Frage. Wir streiten seit mehr als zwanzig Jahren um die Harmonisierung der Standards. Der entscheidende Unterschied heute ist China. Amerika und Europa stehen vor einer Herausforderung. Entweder wir einigen uns auf gemeinsame Standards, addieren unsere Marktmacht und sagen dem Rest der Welt: Wer bei uns, der größten Wirtschaftszone der Erde, etwas verkaufen will, muss unsere Standards erfüllen. Oder wir werden uns irgendwann nach chinesischen Standards für Sicherheit und Gesundheit richten müssen.

Wie hoch sind die Chancen für Erfolg?
Ich würde sagen 70 zu 30. Entscheidend ist, dass diesmal nicht nur die Handelsexperten dafür sind, sondern auch die Politiker: Barack Obama, Angela Merkel, David Cameron. Das ist mehr wert als die guten Argumente der Experten. Die Franzosen werden irgendwann einlenken. Sie haben verlangt, dass der Kulturbereich ausgenommen wird. Die Amerikaner waren klug genug, nicht zu reagieren, indem auch sie einen Bereich von Anfang an ausnehmen. So etwas sollte man, wenn überhaupt, erst am Schluss tun.

Lesen Sie auf der nächsten Seite von Gewinnern, Verlierern und Widerstand

Die ehemalige US-Abhöranlage auf dem Teufelsberg. Im Kalten Krieg galt Berlin weithin als Spionagehauptstadt.
Die ehemalige US-Abhöranlage auf dem Teufelsberg. Im Kalten Krieg galt Berlin weithin als Spionagehauptstadt.

© dpa

Wer sind die größten Gewinner und wer die Verlierer?
Das hängt davon ab, was im Abkommen steht. Die größten Gewinner können die Landwirte sein – sofern die Regierungen den Mut haben, Subventionen zu streichen. Dann könnten wir gegenseitig viel mehr verkaufen. Ein anderer Bereich können Finanzdienstleistungen sein, wenn wir uns auf gemeinsame Regeln einigen. Und die Auto- und die Pharmabranche.

Und die Verlierer?
Die könnten aus denselben Bereichen kommen, sofern sie nicht wettbewerbsfähig sind, sondern nur leben, weil ihre Märkte heute noch nicht offen sind. Ein politisches Problem ist: Die Verlierer wird man nach kurzer Zeit sehen, die Gewinner erst auf lange Sicht. Wenn wir die Agrarmärkte komplett öffnen, werden manche Schweine-, Rinder- und Maisfarmer prosperieren. Und andere werden untergehen. Die Leute in der Autobranche sehen eher eine Win-win-Perspektive und erwarten keine großen Verlierer. Wenn Rechtsanwälte und Architekten leichter auf beiden Seiten des Atlantiks arbeiten können, ist das für manche eine Chance, andere fürchten den zusätzlichen Wettbewerb.

Wo erwarten Sie Widerstand?
Die größten Gegner werden aus dem Bereich der Nichtregierungsorganisationen (NGO) kommen: Konsumentenvertreter, Gewerkschaften, Datenschützer. Ich bezweifle, dass sie wirklich zu den Verlierern zählen. Aber sie werden behaupten, dass sie für die Verlierer sprechen – was man nur schwer überprüfen kann. Der freie Datenaustausch ist eine Grundbedingung in der modernen Wirtschaft. Wir werden jedoch eine Debatte erleben, dass TTIP den Datenschutz bedroht. Das Schöne ist: Solche NGOs gibt es auf beiden Seiten. Die Amerikaner werden sagen, dass unsere Vorstellungen von Datenschutz gefährdet sind – und die Europäer, dass TTIP ihre Art des Datenschutzes bedroht.

Und die französische Forderungen, Filme, Musik und andere Kulturprodukte auszunehmen?
Das ist schon von Bedeutung, aber kein unüberwindbares Hindernis. Die US- Filmindustrie findet die Quotierung in Frankreich nicht gut, hat sich aber darauf eingestellt. Die wahren Verlierer sind die französischen Verbraucher, die auf Produkte, die sie vielleicht gerne hätten, verzichten müssen. Irgendwann werden sie sagen: Wir wollen uns da nicht vom Staat bevormunden lassen.

Parallel zum Atlantischen Wirtschaftsabkommen TTIP verhandeln die USA über ein Pazifisches (TPP). Welches hat für Amerika Priorität?
Beide sind gleich wichtig. Über TPP verhandeln wir seit vier Jahren und haben 17 Runden hinter uns. Der Präsident hat ein geostrategisches Ziel: die USA gleichermaßen als atlantische und pazifische Macht zu etablieren. Das ist nicht neu. Hier wie dort geht es um China, aber auch um Indien und Brasilien. Neue Mächte steigen auf. Wir wollen den Prozess lenken, statt von ihm gelenkt zu werden. Im Pazifischen Abkommen geht es zum Beispiel um Regeln für Staatsbetriebe. China, das Land mit den meisten Staatsbetrieben, sitzt nicht mit am Tisch. Sie werden sich irgendwann dazusetzen, nachdem Japan das kürzlich getan hat. Korea und Indonesien werden schon bald folgen. Wenn die wichtigsten Handelspartner Chinas TPP beigetreten sind, wird sich auch China anschließen wollen. Und die USA werden sagen: Herzlich willkommen! Hier sind unsere Regeln.

Das Interview führte Christoph von Marschall

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