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Detlef Wetzel, 1952 im Siegerland geboren, lernte Werkzeugmacher. Auf dem zweiten Bildungsweg kam er zur Fachhochschulreife, anschließend studierte er Sozialarbeit. 2004 wurde Wetzel IG-Metall-Chef von NRW, 2007 Vizechef in der Frankfurter Zentrale. Seit November führt er die IG Metall, mit 2,3 Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft.

© Thilo Rückeis

Der IG Metall-Chef im Interview: „Arbeitszeit ist das Megathema der nächsten Jahre“

Der IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel freut sich über den Politikwechsel zugunsten der Arbeitnehmer und fordert mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten. Vom neuen DGB-Chef erwartet er sich frischen Schwung und von den Arbeitgebern eine öffentliche Debatte über die Notwendigkeit der Tarifeinheit.

Herr Wetzel, wann hatten wir zuletzt eine so gewerkschaftsfreundliche Politik wie derzeit in der großen Koalition?

Es ist zumindest lange her, dass eine Regierung Themen aufgegriffen hat, die uns wichtig waren: Mindestlohn, Stabilisierung des Tarifsystems, abschlagsfreie Rente nach 63 Lebens- und 45 Versicherungsjahren. Ja, wir haben eine überfällige Korrektur in einigen Politikfeldern.

Ein Erfolg der Gewerkschaften?

Jedenfalls sind viele Themen, die wir in die gesellschaftliche Debatte gebracht haben, in den Koalitionsvertrag eingeflossen. Das betrifft den Mindestlohn, aber auch die Rente: Wir haben immer gesagt, dass die Einheitsrente mit 67 nicht funktioniert und wir flexiblere Ausstiegsmöglichkeiten brauchen. Die Politik hat sich diesem Argument jetzt angeschlossen.

Und wird heftig kritisiert von vielen Ökonomen, die den Standort belastet sehen.

Ein Teil der Diskutanten kann offenbar überhaupt nicht nachvollziehen, wenn es ein Gesetz gibt, von dem Arbeitnehmer oder Rentner profitieren. Es gab viele Jahre eine Stimmung, in der nur gut war, was zulasten der Arbeitnehmer ging. Jetzt gibt es auch Gesetze, die Menschen guttun und Menschen helfen. Offenbar muss sich ein Teil der Gesellschaft erst wieder daran gewöhnen.

Bekommen wir eine andere Wertschätzung der Arbeit?

Das braucht Zeit. Viele Themen haben sich in den letzten 20 Jahren entwickelt – Leiharbeit, Werkverträge, der Niedriglohnsektor. Die damit zusammenhängenden Probleme wurden immer größer, deshalb hat die Politik reagiert.

Also waren die Gewerkschaften nicht so wichtig für den Politikwechsel?

Doch. Wir haben eine veränderte Wahrnehmung der Gewerkschaften in der Gesellschaft. Es ist ja erst etwas mehr als zehn Jahre her, dass der damalige Industriepräsident Tarifverträge verbrennen wollte und Mitbestimmung als schädlich für den Standort galt. In der Finanzkrise 2008/09 wurde dann deutlich, dass ohne Mitbestimmung und ohne Gewerkschaften die Krise so nicht bewältigt worden wäre. Inzwischen lobt die ganze Welt das Sozialpartnermodell in Deutschland, die Art und Weise, wie wir Marktwirtschaft organisieren.

Das deutsche Job-Wunder hängt auch mit der Agenda 2010 zusammen.

Das ist eine Legende, eine publizistische Finte. Andere Länder sind nicht an den Sozialkürzungen der Agendapolitik interessiert, sondern an unserem Sozialmodell: Wie es uns gelungen ist, mit Kurzarbeit, Arbeitszeitkonten und Mitbestimmung die Beschäftigung zu stabilisieren.

Sie haben in den vergangenen zehn Jahren gewerkschaftliche Politik geprägt, „Tarif aktiv“, „Besser statt billiger“ oder die Leiharbeitskampagne sind einige Stichworte dafür. Was kommt als Nächstes?

Wir haben noch einige Projekte: Werkverträge, Fachkräftesicherung, Weiterbildung, Mitbestimmung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Beteiligung ist ein Schlüsselthema für die Entwicklung der Gesellschaft. Wir wollen der Ökonomisierung aller Lebensbereiche mehr Beteiligung und Teilhabe entgegenstellen.

Wie soll das gehen?

Nehmen wir nur das Thema Fachkräftesicherung: Die Qualität der Arbeitsbeziehungen wird künftig eine entscheidende Rolle spielen. Wer will denn in einem Unternehmen arbeiten, das nicht tarifgebunden ist und keinen Betriebsrat hat, das schlechte Löhne zahlt und keine Angebote zur Qualifizierung macht und zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf?

Brennt den IG Metallern das Bedürfnis nach Mitbestimmung unter den Nägeln?

Wir haben kürzlich eine Beschäftigtenumfrage mit 500 000 Teilnehmern gemacht. Qualifizierung und Weiterbildung hat einen hohen Stellenwert, ferner der Wunsch nach Zeitsouveränität. Bislang ging es um flexible Arbeitszeiten aus Sicht der Arbeitgeber, jetzt geht es um Flexibilität für die Arbeitnehmer, die sie für Familien-, Bildungs- oder Pflegezeiten brauchen. Arbeitszeit wird ein Megathema der nächsten Jahre.

Es liegt doch im ureigenen Interesse der Firmen, mit flexiblen Arbeitszeiten für Fachkräfte attraktiv zu sein.

Dann müssten wir ja schon jede Menge Aktivitäten haben. Das ist aber nicht so. Von ein paar Ausnahmen abgesehen tut sich zum Beispiel beim Thema altersgerechte Arbeitsplätze gar nichts. Und bei der Qualifizierung/Weiterbildung ist es nicht anders: Diejenigen, die eh schon gut qualifiziert sind, bekommen am meisten Weiterbildung, und die, die es am nötigsten hätten, am wenigsten.

Und wie wird das anders?

Ähnlich wie bei der Altersteilzeit könnten wir ein Modell für Qualifizierungszeit entwickeln. Man spart Zeiten an, um zum Beispiel eine Meisterschule zu besuchen oder eine Technikerausbildung zu machen. Heute ist das sehr schwierig.

Was sagen die Arbeitgeber dazu?

Es geht erst mal darum, eigene Konzepte zu diskutieren und zu entwickeln. Das machen wir mit den Beschäftigten, um dann kurz- und mittelfristig einige Themen auch zum Gegenstand von Tarifverhandlungen machen zu können.

Schon in der nächsten Tarifrunde?

Ich sehe Schwerpunkte vor allem um die Organisation von Weiterbildung, aber auch Altersteilzeit oder vorzeitiges Aussteigen ist ein Thema, das unsere Mitglieder umtreibt. Die Menschen wollen ein Stück weiter mitbestimmen, wann sie aussteigen und zu welchen Konditionen.

Die Politik kommt diesem Bedürfnis mit der Rente mit 63 nach, die Arbeitgeber sprechen von einem Rückschritt und sind überhaupt sauer: Die Gewerkschaften haben den Mindestlohn und die Rente mit 63 gekriegt, aber die Arbeitgeber bekommen nicht das versprochene Gesetz über die Tarifeinheit, mit dem kleinen Gewerkschaften das Streiken erschwert werden soll.

Die Arbeitgeber kommen auch bei der schwarz-roten Regierung nicht zu kurz. Und wenn die Arbeitgeber die Tarifeinheit unbedingt wollen, dann müssen sie mehr dafür tun. Aber wo ist denn die öffentliche Debatte? Ich kenne keinen Arbeitgeberverband, der die Tarifeinheit fordert und das öffentlich diskutiert. Im Hinterzimmer setzt man so ein komplexes Thema aber nicht durch.

Sie wollen die Tarifeinheit nicht?

Wir befürworten die Tarifeinheit aus ordnungspolitischen Gründen, wir sind aber nicht die Hauptakteure. Es gibt dabei nicht verhandelbare Voraussetzungen: Das Grundgesetz darf nicht geändert und das Streikrecht darf nicht unterlaufen werden. Wenn die Arbeitgeber den Sinn von Tarifen erkennen und sich entsprechend verhalten, dann befürworten wir die Tarifeinheit. Die Arbeitgeber müssen sich aber deutlich stärker als bislang zu Tarifverträgen bekennen – sonst macht auch die Tarifeinheit keinen Sinn.

Entscheidet der DGB-Kongress in der kommenden Woche über das Thema, zumal die Regierung den Kongress abwartet?

Die Tarifeinheit hängt nicht vom Votum des DGB-Kongresses ab. Wenn die Arbeitgeber nicht bereit sind, die gesellschaftliche Debatte zu führen und tragfähige Konzepte zu entwickeln, dann wird das sowieso nichts.

Es gibt einen neuen DGB-Chef – und neuem Schwung für den Dachverband?

Ja, ich freue mich auf Reiner Hoffmann. Der DGB ist die politische Stimme der Gewerkschaften und muss die Themen der Einzelgewerkschaften in der Politik vertreten, das traue ich Reiner Hoffmann zu. Er wird auch neue Impulse setzen.

Wo gibt es Handlungsbedarf?

Nehmen wir die Energiewende, deren Gelingen ganz entscheidend vom Preis abhängt. Mehr als 50 Prozent des Strompreises sind Steuern und staatliche Abgaben. Hier sollte man ansetzen, und die Stromsteuer reduzieren, um den Preis zu stabilisieren.

Der Staat soll hier verzichten, bei der kalten Progression auch und dabei konsolidieren und überhaupt viel mehr investieren.

Wir haben die Möglichkeit, die Einnahmesituation zu verbessern. Die kalte Progression benachteiligt die unteren und mittleren Einkommen und gehört weg, aber das geht nur, wenn gleichzeitig der Spitzensteuersatz erhöht wird. .

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