
© Dirk Gratzel
„Der Planet erträgt uns nicht mehr“: Ein Unternehmer repariert Umweltschäden – und verdient Geld damit
Früher fuhr der Unternehmer Dirk Gratzel einen SUV und flog in den Urlaub. Dann stellte er sein Leben um, um möglichst umweltschonend zu leben. Heute renaturiert er kaputte Industrieflächen und Wälder.
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Dirk Gratzel ist sauber. Der 1968 in Essen geborene Jurist, Journalist und Unternehmer hat seine persönliche Transformation vom konsumistischen Saulus zum Öko-Paulus bilanziert. „Der Umweltwert meiner Existenz übertrifft inzwischen die Umweltkosten meiner Existenz“, sagt Gratzel. „Acht Jahre nach Beginn meiner kompletten Lebensumstellung habe ich damit ein großes Ziel erreicht.“
Das Institut für Technischen Umweltschutz an der TU Berlin (ITU) hatte 2017 in Gratzels Auftrag ausgerechnet, wie viel CO₂ er in seinen ersten Jahrzehnten verursacht hat und welche Umweltschäden auf sein Konto gehen. Die Wissenschaftler kamen auf 348.000 Euro und 1147 Tonnen CO₂.
Gratzel steuerte um, reduzierte die Umweltauswirkungen um 70 Prozent und begann, sein persönliches Schadenskonto mit ökologisch wertvollen Maßnahmen auszugleichen. „Der Planet erträgt uns nicht mehr“, sagt der Umweltschützer dem Tagesspiegel.
Keine Milchprodukte mehr
Der Entschluss zu diesem extremen Lebenswandel reifte über Jahre und stand fest, als Gratzel an einem Herbstabend von der Jagd kam. Er sei ignorant gewesen, habe oft weggeschaut und verdrängt, „was auf der Erde passiert“, sagt der Unternehmer. Bis er gespürt habe, „es geht nicht mehr“. Aber wie geht es anders?

© Dirk Gratzel
Drei Monate dauerte die Öko-Inventur. Gratzel notierte alle Anschaffungen und Konsumgewohnheiten. Er schrieb auf, was er verzehrte, wie lange er duschte, woraus die Kleidung bestand und woher sie kam, die Herkunft von Tee und Kaffee, den Strom- und Wasserverbrauch sowie sein Mobilitätsverhalten. Mit dem SUV fuhr Gratzel 60.000 Kilometer pro Jahr.
Die gesammelten Daten verarbeitete das Berliner ITU. Grob gesagt ergab die Analyse, dass jeweils rund 40 Prozent der CO₂-Emissionen auf Energieverbrauch und Mobilität zurückgehen, zehn Prozent auf die Ernährung sowie weitere zehn Prozent auf Hobbys und Emil, den Hund, dessen Futter für rund 500 Kilogramm CO₂ pro Jahr steht. 60 Empfehlungen leiteten die ITU-Wissenschaftler aus Gratzels Ökobilanz ab – und der legte los.
Außer dem selbst geschossenen Wild kommt kein Fleisch mehr auf den Tisch, auch Milchprodukte sind in der Familie mit fünf Kindern tabu. Die Gratzels fliegen nicht mehr, zum Urlaub nach Südtirol geht es mit dem Elektroauto oder der Bahn, und in der Regel steht Papa Dirk nicht länger als 45 Sekunden unter der Dusche. Bis er sein Leben umstellte, hatte Gratzel nach ITU-Berechnung 826.000 Liter Wasser verbraucht.
Der Wandel wirkte. Der Analyse zufolge fiel Gratzels jährliche Klimabelastung von 27 auf acht Tonnen. Weniger ist offenbar kaum möglich im 21. Jahrhundert, wenn man ein Haus bewohnen und mobil bleiben möchte. „Ziele, die nicht erreichbar sind, machen keinen Sinn“, sagt ITU-Leiter Matthias Finkbeiner. Gratzels verbliebene acht Tonnen gleichen diverse Umweltprojekte inzwischen locker aus.
Geld erleichtert die gute Tat. Gratzel hatte 2012 eine Firma verkauft, die mithilfe Künstlicher Intelligenz psychologische Analysen effizienter machte. Der Verkaufserlös sowie die Partnerschaft mit der Drogeriekette dm ermöglichten den Kauf und die Renaturierung erster verseuchter Industrieflächen. Dazu gründete Gratzel die Firma Greenzero, an der sich die Haniel-Gruppe und der Reha-Unternehmer Wolfgang Hoever beteiligten.
Wir holen Natur in Deutschland zurück.
Dirk Gratzel, Gründer von Greenzero
„Wir produzieren Natur“, wirbt Greenzero für sein Geschäftsmodell. Unternehmen oder Kommunen kaufen Analyse- und Beratungsleistungen ein und können in „Umweltwert“ investieren. Der Umweltwert ist wiederum ein Kompensationsprodukt, dessen Höhe die Universität Braunschweig ermittelt.
„Wir holen Natur in Deutschland zurück“, heißt es bei Greenzero. Inzwischen werden bundesweit 14 Flächen – Bergbraubrachen, Industriegelände, Ackerflächen und kaputte Wälder – von Gratzels Firma „instandgesetzt“.
Matthias Finkbeiner vom Berliner ITU arbeitete viele Jahre mit Gratzel zusammen. Das Institut entwickelt „Lösungen für Nachhaltigkeit durch Technologie“. Klima- und Umweltschutz „kommen im Moment unter Druck“, sagt Finkbeiner dem Tagesspiegel. „Doch die Unternehmen, mit denen wir zusammenarbeiten, sind echt überzeugt und bleiben auf Kurs.“
Vor allem Familienunternehmen aus dem Mittelstand bemühen sich um nachhaltigere Geschäftsmodelle.
Dirk Gratzel
Rund eine Million Euro an Drittmitteln erwirtschaftet Finkbeiners Institut pro Jahr mit Konzept- und Beratungsleistungen. Gratzels Ansatz sei auch deshalb attraktiv, weil fünf Umweltkategorien berücksichtigt würden, sagt Finkbeiner. Neben dem Klimawandel sind das Eutrophierung, also Überdüngung, Versauerung, Sommersmog und Ozonabbau.
Die breite Aufstellung habe beispielsweise dm von der Partnerschaft überzeugt, andere dagegen würden von den Kompensationskosten abgeschreckt, die Finkbeiner zufolge ungefähr zehnmal so hoch sind wie derzeit der Preis für ein CO₂-Emissionszertifikat.
„Vor allem Familienunternehmen aus dem Mittelstand bemühen sich um nachhaltigere Geschäftsmodelle“, sagt Gratzel. Dazu kooperieren der Papierkonzern Wepa, der Babynahrungshersteller Hipp und der Waschmittel-Produzent Dalli mit Greenzero. Doch der wichtigste Partner ist dm.
Für immer mehr Produkte ermittelt die Drogeriekette, die 12.500 Artikel in 2130 Märkten verkauft, deren Umweltkosten und kompensiert diese anschließend mit einer Zahlung an Greenzero.
Unter dem Label Pro Climate hat dm eine neue, „saubere“ Produktreihe eingeführt, mit derzeit 100 Artikeln. „Durch die Unterstützung unserer Kundinnen und Kunden konnten wir seit 2021 schon mehr als 5,8 Millionen Euro in deutsche Renaturierungsprojekte investieren“, sagt dm-Geschäftsführerin Kerstin Erbe.
„Immer mehr Menschen legen Wert auf Produkte, die nicht nur qualitativ überzeugen, sondern auch ganzheitlich verantwortungsvoll gestaltet sind – von der Herstellung bis hin zur Investition in Renaturierungsmaßnahmen“, sagt Erbe dem Tagesspiegel. Zum Beispiel Haferdrink.

© imago/Niehoff
Das Hafermilchkonzentrat in einer 0,5-Liter-Verpackung füllt der Kunde mit Wasser auf; es entstehen 1,5 Liter. Im Vergleich zum herkömmlichen Produkt fällt ein Drittel weniger Verpackung an, was wiederum Transport-Ressourcen schont. Alles in allem konnten die CO₂-Emissionen auf dem gesamten Lebensweg des Produkts um 46 Prozent reduziert werden.
Nun wurden mithilfe der Universität Braunschweig die Umweltkosten für den Haferdrink berechnet: 0,045 Euro. Dieser Wert setzt sich zusammen aus 3,6 Cent Klimawandel, 0,6 Cent Versauerung und 0,2 Cent Meerwasser-Eutrophierung. dm zahlt also 4,5 Cent je verkaufter Packung Hafermilch an Greenzero. Besser gesagt: die dm-Kunden.
Man kann mit ökologischer Aufwertung Geld verdienen: Wenn die Gesellschaft das erkennt, bekommen wir eine ganz andere Dynamik.
Dirk Gratzel
Auch die öffentliche Hand nutzt die Beratungsleistungen von Gratzels Firma. „Greenzero hat sich sehr dynamisch entwickelt und zum Beispiel viele Städte und Kommunen betreut – bis die Ampel eine Fördermaßnahme der bundeseigenen KfW einstellte.“ Das Programm habe etwa 300 Millionen Euro im Jahr gekostet, „so viel wie zwei Panzer“, sagt Gratzel.
Die neue Regierung hat ein ähnliches Programm beschlossen, sodass es von 2026 an wieder mehr Aufträge für die rund 70 Greenzero-Mitarbeitenden geben sollte: Ökologen und Biologen, Forstingenieure und Hydrologen, Geotechniker und Landwirte.
„Man kann mit ökologischer Aufwertung Geld verdienen: Wenn die Gesellschaft das erkennt, bekommen wir eine ganz andere Dynamik und können einen Umsatz von 50 Millionen oder sogar 100 Millionen Euro erreichen“, sagt Gratzel. Zuletzt lag der Jahresumsatz bei zehn Millionen Euro.
Ein Booster wird vielleicht das Renaturierungsgesetz der EU aus dem Jahr 2024, das nach und nach in nationale Strategien und Maßnahmen umgesetzt wird. „Davon versprechen wir uns in den kommenden Jahren einen Schub.“
„Green School“ für Grundschulkinder
Ein potenziell riesiges Geschäftsfeld ist die Landwirtschaft. Den Markgraf von Baden unterstützt Greenzero bei der Renaturierung von Anbauflächen am Bodensee. Im Saarland hat die Ökofirma selbst einen landwirtschaftlichen Betrieb übernommen. „Rund die Hälfte der Fläche Deutschlands wird landwirtschaftlich genutzt. Eine nachhaltige oder sogar regenerative Landwirtschaft wäre ein entsprechend großer Hebel“, sagt Gratzel.
In Polsum im nördlichen Ruhrgebiet war vor mehr als fünf Jahren auf dem verseuchten Gelände einer ehemaligen Kohle-Schachtanlage die erste Fläche instandgesetzt worden. Hier hat Gratzel einen Bauwagen ins Grüne gestellt und das Bildungsprojekt „Green School“ gestartet. „Grundschulkinder erleben die renaturierten Flächen und die Artenvielfalt“, sagt der Umweltunternehmer. Künftig soll die „Green School“ an allen Greenzero-Standorten die Kinder für Natur begeistern.
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