zum Hauptinhalt

Wirtschaft: "Der soziale Zusammenhalt ist ein wichtiges Element der Stabilität"

TAGESSPIEGEL: Die Folgen der Krise in Rußland für die EU seien "begrenzt und überschaubar", meinte der Präsident der EU-Kommission Jacques Santer.Andere, wie der ehemalige Botschafter der EU in Moskau, Michael Emerson, machen sich weit mehr Sorgen.

TAGESSPIEGEL: Die Folgen der Krise in Rußland für die EU seien "begrenzt und überschaubar", meinte der Präsident der EU-Kommission Jacques Santer.Andere, wie der ehemalige Botschafter der EU in Moskau, Michael Emerson, machen sich weit mehr Sorgen.Unterschätzt man in Brüssel nicht die Risiken, die aus den russischen Turbulenzen erwachsen könnten?

DE SILGUY: Zweifellos haben wir es in Rußland mit einer schweren Krise zu tun, der Krise eines Landes, das sich nach 75 Jahren Kommunismus im Übergang zur Marktwirtschaft befindet.Aber es ist eine russische Krise, die in erster Linie die Russen schwer trifft.Das ist eine Krise des Vertrauens der Menschen in ihre politische Führung und des Vertrauens der ausländischen Geldgeber und Investoren in die Reformfähigkeit und Verläßlichkeit der Russen.Noch vor zwei Jahren allerdings hätten wir in einer solchen Situation weit mehr Grund zur Beunruhigung gehabt.Inzwischen haben wir aber den Euro.Alle Entscheidungen für die Währungsunion sind getroffen.Glücklicherweise haben wir das hinter uns.Der Euro ist schon jetzt ein Schutzschild gegen die Ansteckung durch Turbulenzen von außen.Bevor es sie überhaupt gibt, wirkt sich die Währungsunion schon stabilisierend aus.Die russische Finanzkrise war die erste Bewährungsprobe für den Euro.Er hat sie mit Erfolg bestanden.Wir haben in Europa nach wie vor eine sehr hohe Währungsstabilität.Zum anderen sind auch unsere anderen Wirtschaftsdaten gut.

TAGESSPIEGEL: Ist unsere Sicht auf Rußland nicht auf gefährliche Weise eindimensional, wenn wir nur von der Wirtschaft sprechen, aber die Menschen vergessen, die unter der Krise leiden? Sieht man in Brüssel denn die Risiken einer politischen und sozialen Krise in Rußland nicht?

DE SILGUY: Die Krise in Rußland ist sowohl eine wirtschaftliche als auch eine politische Krise.Deshalb brauchen wir möglichst rasch eine politische Lösung, die aus der Regierungskrise führt, und ein Wirtschaftsprogramm, das wieder Vertrauen schafft - bei der Bevölkerung selbst und bei den ausländischen Investoren, Geldgebern und Märkten.Das größte Risiko besteht in einer drohenden Hyperinflation, die schwere soziale Folgen hätte, letztlich zur Verarmung der Bevölkerung führen würde.

TAGESSPIEGEL: Halten Sie den Zusammenbruch des politischen Systems in Rußland oder soziale Unruhen für möglich?

DE SILGUY: Nach unseren gegenwärtigen Informationen herrscht unter der Bevölkerung in Rußland eine gewisse Resignation, eine Passivität, die bisher nicht auf eine revolutionäre Stimmung schließen läßt.Aber ich bin kein Prophet.Man kann eine soziale Explosion nicht ausschließen.Gefährlich könnte die angespannte Versorgungslage werden.Bisher haben die Russen Nahrungsmittel in erheblichen Mengen aus der EU importiert.Zur Zeit kaufen sie nichts mehr, weil sie das Geld nicht mehr dazu haben.Werden die Menschen in Rußland ausreichend zu essen haben? Hier müssen wir sehr wachsam sein, was passiert.

TAGESSPIEGEL: Werden die Russen im kommenden Winter wieder Lebensmittelhilfe der EU benötigen?

DE SILGUY: Gegenwärtig liegt noch kein Hilfeersuchen der russischen Regierung vor.Wir haben deshalb noch keinen Plan für eine Nahrungsmittel- oder Medikamentenhilfe aufgestellt.Bisher besteht dazu auch noch kein Anlaß.Aber meiner Meinung nach müssen wir handeln, wenn sich wirklich eine Notsituation abzeichnet.Unsere Lebensmittellager sind voll.Wir können sehr schnell reagieren, wenn es notwendig wird.

TAGESSPIEGEL: Bisher haben wir nur immer wieder gehört, was man nicht tun kann: Weder ein Schuldenmoratorium sei angemessen, noch Finanzspritzen mit frischem Geld, noch ein "Currency Board", ein gemeinsamer internationaler Fonds zur Stützung des Rubels.Was also kann man von außen überhaupt tun? Was wird die EU beim G-7-Treffen am Wochenende vorschlagen?

DE SILGUY: Beim G-7-Treffen werden wir als erstes die Situation analysieren.Wir haben gegenwärtig das Problem, daß wir es mit einer immer noch ungeklärten Lage zu tun haben.Wir wissen noch nicht, wie es in Rußland weitergehen soll, auch wenn es einige positive Anzeichen gibt.Wir können uns in dieser noch ungewissen Situation nicht festlegen.Gegenwärtig würde es überhaupt nichts nützen, wenn wir frisches Geld nach Rußland pumpen würden.Im Juli hat der IWF elf Mrd.Dollar für Rußland zur Verfügung gestellt.

TAGESSPIEGEL: Was ist damit passiert?

DE SILGUY: Niemand weiß, was daraus geworden ist.Die Milliarden sind verschwunden, ohne irgend etwas zu bewirken.Das Problem der Russen läßt sich nicht mit Geld, lösen.Entscheidend wird sein, daß eine Regierung mit einem glaubwürdigen Programm das Vertrauen wieder herstellt.Die Russen kommen an tiefgreifenden Reformen nicht vorbei.Wenn die neue Regierung zu alten Methoden zurückfallen würde - Nationalisierungen, Dirigismus, Protektion der Monopole - dann würde das nicht Vertrauen schaffen.Das künftige Wirtschaftskonzept muß aber von der Bevölkerung akzeptiert werden.Es muß die Gesellschaft sozial zusammenhalten.Wir können den Russen hier durchaus mit Rat und Tat unter die Arme greifen.Im Rahmen des Hilfsprogramms Tacis geben wir jährlich 200 Mill.Ecu (knapp 400 Mill.DM) für die Rußland-Hilfe aus, für Beratung, technische Unterstützung, Ausbildung, gemeinsame Projekte.

TAGESSPIEGEL: Diese EU-Hilfsprogramme wirken sich bestenfalls mittelfristig aus.Die Menschen leiden aber heute unter der Krise.Ist es nicht entscheidend, daß die Menschen in Rußland wieder Vertrauen fassen?

DE SILGUY: Wenn die russische Wirtschaft wieder Fuß fassen soll, benötigt das natürlich seine Zeit.Das geht nicht von heute auf morgen.In der europäischen Sicht der Dinge hat sich aber in den vergangenen zwei Wochen ein Wandel vollzogen.Viel zu lange Zeit hat man im Westen die soziale Dimension des Problems ignoriert.Die westlichen Wirtschaftsexperten reagierten alle gleich: Es gibt jetzt nichts anderes für Rußland, als die Wirtschaftsreformen fortzusetzen.Inzwischen hat man sich in der EU wieder darauf besonnen, daß der soziale Zusammenhalt ein wichtiges Element der Stabilität ist.Bei ihrem Treffen in Salzburg am vergangenen Wochenende haben die EU-Außenminister nachdrücklich gefordert, daß die Wirtschaftsreform in Rußland künftig Rücksicht auf die Bedürfnisse und Erwartungen der Menschen nehmen muß.

TAGESSPIEGEL: Müssen nicht auch die harten Bedingungen der internationalen Finanzinstitute wie IWF und Weltbank für die Rußland-Hilfe entsprechen angepaßt werden, damit die sozialen Folgen der Reform für die Menschen erträglicher werden?

DE SILGUY: Die Aufgabe des IWF ist es, mit seiner Hilfe Währung und Wirtschaft eines Landes wieder aufs Gleis zu stellen.Die Wirtschaftsexperten des IWF tun ihre Arbeit, die sie tun müssen.Sie entwerfen Sanierungsprogramme, die möglichst strikt auf dieses Ziel ausgerichtet sind - nicht aber auf die soziale Dimension des Problems.Wir wissen alle: Die Programme, die der IWF vorschlägt, sind die einzige Medizin, die wirkt.Wir müssen jetzt aber über die Frage nachdenken, wie die Patienten dazu gebracht werden können, diese bittere Medizin zu schlucken.Vielleicht muß bei den Reformen eine langsamere Gangart angeschlagen werden.Vermutlich müssen wir auch darauf verzichten, den Russen die technisch beste Lösung aufzuzwingen.Statt dessen sollten wir Konzepten den Vorzug geben, die in den Augen der Fachleute vielleicht nicht optimal, aber sozial verträglicher und politisch akzeptabler sind.

TAGESSPIEGEL: Fürchten Sie nicht, daß eine künftige russische Regierung im Extremfall wieder zur alten Kommandowirtschaft zurückkehren könnte?

DE SILGUY: Nein, ich glaube nicht, daß eine völlige Rückkehr zu den alten Zuständen möglich ist.Moskau würde sich damit selbst ins Abseits stellen und alle Bindungen zum Westen kappen, über die Rußland Hilfe erhält und auch weiter erwarten kann.Überdies würde dieser Schritt zurück vermutlich zur gefürchteten Hyperinflation führen, die verheerend wäre.Andererseits ist es klar, daß man die Wirtschaft nicht von heute auf morgen liberalisieren kann.Unser westliches System und unsere Methoden kann man einem Land, dessen Bevölkerung seit mehr als achtzig Jahren in einer völlig anderen Wirtschaftswelt gelebt haben und die sich nun an völlig neue Regeln gewöhnen muß, nicht auf brutale Weise überstülpen.Wir müssen Übergangslösungen finden.Was jetzt entscheidend ist: Die Russen müssen Vertrauen zurückgewinnen.Das können sie nur, wenn sie den Reformprozeß konsequent fortsetzen.Es muß deutlich werden, wohin sie wollen und wie sie dorthin kommen wollen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false