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Wirtschaft: Der Untergang des Manchester-Kapitalismus

Margaret Beckett war entsetzt.Eine Putzfrau, die 1,30 Pfund die Stunde verdient (3,90 DM); ein Wachmann, der es gerade mal auf 2,35 bringt (7,05 DM), und Heimarbeiterinnen, denen nicht mehr als 35 Pence Stundenlohn gezahlt werden (gerade mal eine DM).

Margaret Beckett war entsetzt.Eine Putzfrau, die 1,30 Pfund die Stunde verdient (3,90 DM); ein Wachmann, der es gerade mal auf 2,35 bringt (7,05 DM), und Heimarbeiterinnen, denen nicht mehr als 35 Pence Stundenlohn gezahlt werden (gerade mal eine DM).Für Beckett war das schier unglaublich und eine absolute Schmach für ihr Land, Großbritannien.Als die Labour-Politikerin vor rund 13 Monaten ihren neuen Job als Handels- und Industrieministerin in der Regierung von Tony Blair übernahm, stand die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes ganz oben auf ihrer Aufgabenliste.Ende dem Hungerlohn - das war eine der zentralen Forderungen im Labour-Wahlkampfmanifest, denen die Briten durch den überragenden Wahlsieg von Tony Blair am 1.Mai vergangenen Jahres ihre Zustimmung und Unterstützung aussprachen.

In Deutschland herrscht derzeit das Image von "Cool Britannia" vor - "swinging" London mit seinen schicken Restaurants und den trendigen Bars, in denen sich junge Anwälte in dunklem Anzug mit schicken Bankerinnen zum Dinner treffen.Die Einstiegsgehälter von qualifizierten Hochschulabsolventen in und um die Londoner City liegen bei rund 30 000 Pfund im Jahr (90 000 DM).Das Bedienungspersonal in den Restaurants der Londoner Kette PizzaExpress, die City-Yuppies durchaus zu ihren Gästen zählen, verdient gerade mal drei Pfund (neun DM) die Stunde.

Viele deutsche Wirtschaftsgrößen halten Großbritannien als das ökonomische Modell der Zukunft hoch: Ein flexibler und liberaler Arbeitsmarkt mit geringen staatlichen Auflagen sorgt für ein Klima, welches Investitionen begünstigt und Jobs schafft.Mit einer Arbeitslosenrate von 6,4 Prozent, also rund 1,8 Millionen Briten ohne Job (Zahlen für Februar bis April), steht Großbritannien weitaus besser dar als Frankreich und die Bundesrepublik.

Der Großteil der Jobs, die über die vergangenen Jahre geschaffen wurde, befindet sich jedoch in der Dienstleistungsbranche.Und die Mitarbeiter von Putzkolonnen, in Fast-Food-Läden und Restaurants, bei Sicherheitsdiensten und in Altenheimen gehören zu den rund 2,3 Millionen Arbeitnehmern in Großbritannien, deren Löhne so niedrig sind, daß sie Margaret Becketts blankes Entsetzen hervorriefen.

Am Donnerstag vergangener Woche konnte die Ministerin nun einen gesetzlichen Mindestlohn von 3,60 Pfund (10,80 DM) die Stunde für alle Arbeitnehmer älter als 21 Jahre ankündigen.Für die 18- bis 21jährigen gilt ein niedrigerer Mindestlohn von drei Pfund (neun DM).Jugendliche unter 18 Jahren sind von der Gesetzgebung ausgenommen.Die drei Pfund für junge Arbeitnehmer stellen für Beckett eine harte Niederlage dar - nicht gegenüber der konservativen Oppositionspartei oder etwa Industriegrößen und Wirtschaftsbossen, sondern gegenüber ihrem Kabinettskollegen Gordon Brown, dem Schatzkanzler der Labour-Regierung.Eine Kommission aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern sowie Akademikern unter der Leitung von Becketts Handels- und Industrieministerium hatte sich zu einem reduzierten Mindestlohn von 3,20 Pfund für 18- bis 20jährige durchgerungen.Beckett wollte die Empfehlungen der Kommission unbedingt unverändert durchsetzen, um den erzielten Konsens nicht zu gefährden.Schatzkanzler Brown befürchtete jedoch, daß eine solches Lohnniveau mit dem von Labour initiierten "welfare-to-work"-Programm kollidieren würde.Arbeitgeber erhalten staatliche Unterstützung, wenn sie Sozialhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose einstellen.

Brown und Premierminister Blair verfolgen mit dem Programm ein klares Ziel: Sie wollen Schluß machen mit der, wie sie es nennen, "Kultur der Abhängigkeit".Alle Briten sollen sich ihren Lebensunterhalt durch Arbeit selbst verdienen, anstatt sich auf staatliche Fürsorge zu verlassen.Vor wenigen Jahren noch hätten nur die Tories, die konservative Partei, solche Worte in den Mund genommen.Doch seit New Labour ist Schluß mit allzu fürsorglicher Sozialpolitik in der britischen Arbeiterpartei.Brown hatte von einigen Arbeitgebern die Warnung erhalten, daß sie ihre Teilnahme am "welfare-to-work"-Programm aufkündigen würden, falls der Mindestlohn für junge Beschäftigte auf 3,20 Pfund festgelegt wird.Innerparteilich hat sich Brown also gegen Beckett durchgesetzt - nicht zuletzt aufgrund der Unterstützung durch Tony Blair.Von den Gewerkschaften mußte Beckett teilweise heftige Kritik hinnehmen.Die drei Pfund seien ein Schlag in das Gesicht aller jungen Beschäftigten, verlautbarte die drittgrößte britische Gewerkschaft, GMB.Rodney Bickerstaff, Generalsekretär der größten Gewerkschaft UNISON, hält selbst die 3,60 Pfund für zu niedrig.Für den Gewerkschaftsdachverband, TUC, stellt Becketts Vorschlag jedoch einen guten Start dar, auf den TUC zukünftig aufbauen will.Auch der Arbeitgeberverband CBI zeigte sich zufrieden: Zwar seien die 3,60 Pfund das obere Ende des für die Wirtschaft akzeptablen Mindestlohnniveaus.Insgesamt aber, so CBI-Generaldirektor Adair Turner, sollte es dadurch zu keinen großen Entlassungen oder verstärktem Druck auf die Inflation kommen.

Die von Beckett eingesetzte Mindestlohnkommission hat bewußt ein Lohnniveau gewählt, das die Konjunktur so wenig wie möglich negativ beeinflußt.Zwar bedeutet die Einführung des Mindestlohnes zum April nächsten Jahres, daß die rund 2,3 Millionen betroffenen Arbeitnehmer durchschnittlich einen Einkommenszuwachs von 30 Prozent erzielen.Dieses zusätzliche Einkommen macht jedoch nicht einmal 0,6 Prozent aller britischen Einkommen aus - was ausdrückt, wie groß die Diskrepanz zwischen den Niedriglohngruppen und den Topverdienern ist.Einer der Hauptbeweggründe für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes ist, die große Ungleichheit zwischen den Einkommen anzupassen.Die wenigen Stimmen in der konservativen Partei und unter liberalen Wirtschaftsvertretern, die immer noch behaupten, ein gesetzlicher Mindestlohn heize die Inflation an, sollten durch die jüngsten Erkenntnisse von Volkswirten und Statistikern vollends entkräftigt werden.

Die letzte Zinsanhebung der Bank of England um einen Viertelprozentpunkt auf 7,5 Prozent wurde zwar mit dem starken Anstieg der Gehälter in der Privatwirtschaft begründet.Und auch die am vergangenen Mittwoch vom Nationalen Statistikbüro veröffentlichten Zahlen von 5,2 Prozent Einkommenszuwachs in den zwölf Monaten bis zum März 1998 könnten, so schätzen Beobachter, eine weitere Zinsanhebung hervorrufen.

Einer der Hauptgründe für die rasante Einkommensentwicklung sind jedoch nicht etwa Veränderungen am unteren Ende des Gehaltsspektrums, sondern die hohen Bonuszahlungen für die Besserverdienenden.

KAREN KLEINWORT

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