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Wirtschaft: Deutschland geht von der Fahne

Berlin will die teilungsbedingten Sonderausgaben angerechnet bekommen - Die EU ist dagegen

Von Antje Sirleschtov

Berlin - Es war der damalige Finanzminister Theo Waigel, der die EU-Mitgliedsstaaten 1996 auf die strikte Begrenzung der staatlichen Schulden verpflichtet hat. „Drei Prozent ist drei Prozent“, antwortete der CSU-Politiker, als ihn die Nachbarländer fragten, ob man die Festlegung der maximalen Schuldengrenze in den Nationalstaaten nicht etwas flexibler handhaben könne.

Sein Nachfolger im Amt, der SPD-Minister Hans Eichel, wäre jetzt froh, hätte sich Waigel seinerzeit nicht so eindeutig festgelegt. Denn ausgerechnet Deutschland verstößt seit Jahren gegen die Gebote des gemeinsamen Stabilitäts- und Wachstumspaktes – nun will die deutsche Regierung den Vertrag ändern. Am heutigen Sonntag wollen sich die EU-Finanzminister treffen, um darüber zu reden.

Bevor die EU-Kommission den im Pakt festgelegten automatischen Verfahrensweg zur Abmahnung und Abstrafung von Defizitsündern einleiten kann, so das Ziel der Deutschen, soll sie bestimmte nationale Ausgaben aus dem Defizit herausrechnen. Schröder und Eichel wollen erreichen, dass die Nettozahlungen Deutschlands in den gemeinsamen EU-Topf und die Kosten der deutschen Einheit nicht mitgerechnet werden. Außerdem wollen sie, dass Staatsausgaben, die das Wirtschaftswachstum eines Landes befördern, also etwa Ausgaben für Forschung und Technik, als defizitmindernd betrachtet werden.

Im Hinterkopf hat die Bundesregierung den ersten „blauen Brief“, den ihr die Brüsseler EU-Kommission, die über die Einhaltung des Paktes wacht, 2002 gesandt hat. Seinerzeit drohte Deutschlands Staatsdefizit zum ersten Mal die Drei-Prozent-Grenze zu überschreiten und die Kommissare mahnten, die Ausgaben von Bund, Ländern, Kommunen und Sozialversicherungsträgern zu kürzen. Hätte Deutschland seine derzeitigen Ideen damals schon durchgesetzt, hätte die Kommission diesen Brief gar nicht erst geschickt.

Worum geht es konkret? 160 Milliarden Euro müssten alle Staatsebenen heute einsparen, um zu einem ausgeglichenen Haushalt zu kommen. Bei öffentlichen Haushalten von insgesamt rund 500 Milliarden Euro im Jahr eine schier unvorstellbare Summe. Der Staat wäre von heute auf morgen handlungsunfähig.

Eichels Rechnung sieht anders aus. Bund, Länder und vor allem die Sozialversicherungen tragen jährlich rund 90 Milliarden Euro so genannter teilungsbedingter Lasten für Ostdeutschland. Das sind unter anderem Solidarpaktgelder für den Aufbau Ost, aber auch Zahlungen der Rentenversicherung für Altersgelder, die die Ostdeutschen nicht selbst durch Beitragseinzahlungen in den vergangenen 40 Jahren erbracht haben. Diese Kosten herauszurechnen, würde allein das deutsche Defizit mehr als halbieren.

Doch diese Anrechnung der Einheitskosten hat nach Einschätzung des luxemburgischen Premierministers und amtierenden EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker kaum Chancen. Er habe zwar Verständnis dafür, dass die deutsche Einheit ein Kostenfaktor sei, der „schwer zu schultern“ sei. Allerdings könnten auch andere Länder darauf verweisen, dass sie fast 60 Jahre von den europäischen Märkten ausgeschlossen gewesen seien und einen entsprechenden Anpassungsprozess durchlaufen müssten, sagte Juncker dem „Spiegel“. Der Ratspräsident zeigte allerdings Verständnis für die Forderung Deutschlands, länderspezifische Ausnahmekriterien bei der Berechnung der jährlichen Neuverschuldung zu berücksichtigen. „Ich denke, dass die Kosten für den EU-Haushalt – zumindest in Teilen – bei der Festlegung des Drei-Prozent-Kriteriums berücksichtigt werden müssen.“

Bei den Bemühungen ist für die Bundesregierung Eile geboten. Zwar behauptet Finanzminister Eichel noch immer, dass Deutschland 2005 die Drei-Prozent-Grenze nicht überschreiten wird. Aber spätestens zur Steuerschätzung im Mai droht eine Korrektur der Haushaltszahlen. Schon jetzt prognostiziert der Internationale Währungsfonds: Die Deutschen werden auch 2005 und 2006 mit einer Gesamtverschuldung von 3,6 und 3,3 Prozent des Bruttoinlandproduktes gegen den Pakt verstoßen. Deutschland läuft Gefahr, erneut von Brüssel in ein Strafverfahren gezwungen zu werden. Schlimmstes Szenario: Im Wahlkampfjahr 2006 muss sich die Bundesregierung als Schuldenmacher rechtfertigen.

Zwischen Regierung und Opposition ist es um die Reform des Stabilitätspaktes bereits zum Glaubenskrieg gekommen. Während der Kanzler nicht müde wird, auf den Wachstumsaspekt des Paktes zu verweisen, hebt die Opposition den Stabilitätsaspekt hervor. So appelliert der CDU-Finanzpolitiker Michael Meister, „der EU-Vertrag ist nicht das Problem, sondern der mangelnde Wille der Bundesregierung, den Pakt einzuhalten“. Meister wirft der Regierung vor, sie habe nur kurzfristige Ziele im Sinn und betreibe eine „Politik der verbrannten Erde“. mit dpa

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