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Wirtschaft: Die Arbeitszeit solidarisch umverteilen

Mehr "Zeitwohlstand" für den Einzelnen / Tausende neuer Arbeitsplätze wären möglichVON PETER GROTTIANDer öffentliche Dienst verschlingt in seinen Personalausgaben fast die gesamten Steuereinnahmen und hat nicht mehr zu bieten als Stellenabbau, Einschränkung von Dienstleistungen und geschlossene Tore für die junge Generation.Und das I-Tüpfelchen: Der öffentliche Dienst ist trotz massivem Stellenabbau nicht billiger geworden.

Mehr "Zeitwohlstand" für den Einzelnen / Tausende neuer Arbeitsplätze wären möglichVON PETER GROTTIAN

Der öffentliche Dienst verschlingt in seinen Personalausgaben fast die gesamten Steuereinnahmen und hat nicht mehr zu bieten als Stellenabbau, Einschränkung von Dienstleistungen und geschlossene Tore für die junge Generation.Und das I-Tüpfelchen: Der öffentliche Dienst ist trotz massivem Stellenabbau nicht billiger geworden.Für die Schaffung neuer Arbeitsplätze hat der Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV, Herbert Mai, Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich angeboten.Das ist in mehrfacher Hinsicht sensationell und weitsichtig.Er will ja nicht nur die Beschäftigungssicherung im öffentlichen Dienst, sondern traut sich sogar angesichts der 4,6 Millionen Arbeitslosen neue Arbeitsplätze für wichtige öffentliche Dienstleistungen zu fordern. Mai argumentiert zu Recht, daß der öffentliche und halböffentliche Dienst, die Kirchen und Wohlfahrtverbände mit rund 8,2 Millionen Beschäftigten ein "riesiger Bereich" für den Arbeitsmarkt seien, wo solidarische Arbeitszeitpolitik praktiziert werden könnte.Er ist vorsichtig bei der Stundenzahl für die Arbeitszeitreduzierung, und er läßt keinen Zweifel, daß die unteren Einkommensgruppen besonders zu schonen sind.Sollte sich Mai durchsetzen, wäre eine offensive, solidarische Arbeitszeitumverteilungsstrategie möglich, die bei oberen und zum Teil mittleren Einkommensgruppen mehr Zeitwohlstand ohne Lohnausgleich anvisiert.Somit könnten wichtige öffentliche Dienstleistungen mit neuen Arbeitsplätzen finanziert werden.Es könnten dabei 300 00 bis 400 000 neue Teilzeit- und Vollzeitarbeitsplätze herausspringen. Der Vorstoß von Mai wird dann eine Chance haben, wenn es gelingt, die Spardebatte und die Diskussion um die ausbaubedürftigen öffentlichen Dienstleistungen so zu verbinden, daß sinnvolle Einsparungen (Verfassungsschutz, Versorgungsämter, zentrale Universitätsverwaltungen) und neue Arbeitsplätze einsichtig werden (Jugendeinrichtungen, Dienstleistungen für ältere Menschen, wissenschaftliche Nachwuchsförderung).Wenn es ferner gelingt, die tarifpolitische Koppelung von Verzicht und neuen Arbeitsplätzen vertraglich wasserdicht zu gestalten.Denn nur so können die unterschiedlichen Interessen in der ÖTV und der öffentliche Druck zusammengebunden werden.Die Mitglieder des öffentlichen Dienstes sind nur dann zur solidarischen Arbeitsumverteilung bereit, wenn sie nicht nur ein abstraktes Loch stopfen helfen, sondern neue Arbeitsplätze wirklich sehen. Schließlich müßte eine Öffnung der Debatte einen produktiven Streit entzünden, der öffentliche Arbeitgeber und Gewerkschaften mehr herausfordert.Die Gefahr ist groß, daß Mais Vorschläge sanft de-thematisiert werden und sich im Herbst das unsägliche Tarif-Prozente-Ritual wiederholt.Auch die Wohlfahrtsorganisationen ­ AWO, Diakonisches Werk, Caritas, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband ­ müssen endlich den Mund aufmachen und nicht nur über die Streichungen der staatlichen Zuschüsse und die Personalkosten jammern.Schließlich habe die kirchlichen Dienstleistungen (Caritas, Diakonisches Werk u.a.) mehr Beschäftigte als Bahn und Post zusammen.Und wenn wir demnächst von der Katholischen Bischofskonferenz hören, die Katholische Kirche mobilisiere Immobilien für neue Arbeitsplätze, dann hätte diese Kirche über ihr zusammengeschrumpftes Klientel hinaus eine öffentliche Reputation barmherziger Beschäftigungspolitik. Der öffentliche Dienst ist Druck ausgesetzt: Weniger Personal drückt die Personalkosten insgesamt, lautet vereinfacht die Parole.Faktisch geschieht aber etwas anderes: Die Stellen im öffentlichen Dienst des Landes Berlin beispielsweise haben zwar von 1993 bis 1996 von 284 781 auf 257 526 abgenommen, die Personalkosten sind jedoch bei rund 19,5 Mrd.DM weitgehend konstant geblieben.Die Gründe liegen in der Dynamisierung der Personalkosten (Tarifsteigerungen, Osttarifangleichung, Alterszulagen, Beförderungen), von den Pensionen und der explosionsartigen Zunahme der Beihilfekosten überhaupt nicht zu reden. Dabei sind die Stelleneinsparungen vor allem im einfachen und mittleren Dienst erfolgt, während sich der höhere Dienst in drei Jahren um 19 Prozent ausgeweitet hat.Spektakulär ist indessen, wie die bürokratische und politische Klasse sich besoldungsmäßig bedient.In den oberen Besoldungsgruppen der Richter, Hochschullehrer und Senats-/Bezirksbeamten haben sich die Stellen von 324 auf 1460 wundersam vermehrt.Hier erfüllt sich die Ahnung der Bürgerinnen und Bürger: Diejenigen, die harte Sparziele proklamieren, halten sich selbst nicht daran und langen für ihre Privilegien ungeniert zu.Ein solches Beutesystem ist mit der üblichen leichten politischen Schamröte kaum zu überspielen. Wir haben für die 257 526 Beschäftigten (Stand 1996) des Landes Berlin ein Modell entwickelt, daß die notwendige Arbeitsumverteilung mit sozial differenzierten Gehaltskürzungen verbindet: Je nach Gehalts- und Vergütungsgruppe wird das Gehalt und die Arbeitszeit um 1 bis 7 Prozent vermindert und zusätzlich auf die Anhebung der Gehälter 1998 verzichtet ­ wobei die unteren Lohngruppen von dem Verzicht ausgenommen bleiben.Durch Gehaltskürzung bei gleichzeitiger Verminderung der Arbeitszeit können 7155 Vollzeitarbeitsplätze und 14 310 Teilzeitarbeitsplätze (50 Prozent der regelmäßigen Arbeitszeit) geschaffen werden.Vertretbare Gehaltskürzungen mit Zeitwohlstandseffekten führen also zu einem öffentlichen Beschäftigungsprojekt mit bis zu 22 000 neuen Arbeitsplätzen in Berlin.­­Der Autor ist Teilzeitprofessor für Politische Wissenschaften an der FU Berlin.

PETER GROTTIAN

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