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Wirtschaft: „Die Bürgerversicherung täuscht Solidarität nur vor“ Ökonom Bert Rürup über die Wirkung der Gesundheitsreform und seine neuen Vorschläge zur Einführung einer Kopfpauschale

Herr Rürup, Patienten sind sauer über Praxisgebühr und hohe Zuzahlungen, Experten schimpfen, dass die Gesundheitsreform viele Probleme nicht löst. Ist die Reform so schlecht, wie sie gemacht wird?

Herr Rürup, Patienten sind sauer über Praxisgebühr und hohe Zuzahlungen, Experten schimpfen, dass die Gesundheitsreform viele Probleme nicht löst. Ist die Reform so schlecht, wie sie gemacht wird?

Das Gesetz war die größte Schnittmenge der Gemeinsamkeiten von Regierung und Opposition und damit natürlich nicht der große Wurf. Aber es ist besser als sein Ruf. Und es wirkt.

Trotzdem sind die Ausgaben für Medikamente im März wieder deutlich angestiegen. Ist die Reform gescheitert, bevor das Jahr richtig begonnen hat?

Die Arzneimittelausgaben sind nur im Vergleich zum Februar 2004 gestiegen, nicht im Vergleich zum Vorjahr. Es ist damit zu rechnen, dass 2004 im Vergleich zu 2003 etwa zehn Prozent weniger für Medikamente ausgegeben werden. Praxisgebühr und Zuzahlungen sind aber nur zwei Instrumente eines größeren Bündels struktureller Maßnahmen. Insgesamt wird das System in diesem Jahr um fast zehn Milliarden Euro entlastet.

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hat den Verbrauchern versprochen, dass die Kassenbeiträge von 14,3 auf 13,6 Prozent sinken werden. Wird Sie ihr Versprechen halten können?

Die Reform greift, aber die Blütenträume, die man hinsichtlich der Beitragssatzsenkung erwartet hat, gehen nicht alle in Erfüllung. Trotzdem sehe ich zum Ende des Jahres eine 13 vor dem Komma.

Das Bundesversicherungsamt hat der Gmünder Ersatzkasse und zwei anderen Kassen gerade die geplante Beitragssatzsenkung untersagt. Macht das Amt der Ministerin einen Strich durch die Rechnung?

Das verzögert die Beitragssenkung, aber es verhindert sie nicht. Ich kann die Entscheidung des Aufsichtsamtes voll verstehen. In der Vergangenheit haben viele Kassen Schulden aufgebaut, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Die Solidität der Kassen muss Vorrang vor kurzfristigen Beitragssatzsenkungen haben – auch wenn das Bundesgesundheitsministerium sich eine schnelle Beitragssatzsenkung wünscht.

Und trotzdem erwarten Sie noch in diesem Jahr weitere Beitragssatzsenkungen?

Ich gehe davon aus, dass in der zweiten Jahreshälfte weitere Kassen ihre Beiträge senken werden, auch von den Allgemeinen Ortskrankenkassen. Und das wird dazu führen, dass wir am Ende des Jahres unter die 14 Prozent kommen sollten.

Gesundheitsministerium, Kassen und Ärzte lassen immer mehr Ausnahmen zur Reform zu, wie das Hausarztmodell und Chronikermodelle. Ist das klug?

Dem Reformgesetz ist in der Tat ein bisschen der Biss genommen worden. Die für das Ende des Jahres angekündigten Hausarztmodelle als Ersatz der Praxisgebühr dürften bislang in erster Linie dem Marketing dienen. Nicht umsonst ist die sehr teure Barmer Ersatzkasse damit vorgeprescht. Wenn viele Kassen diese Hausarztmodelle nicht nur ankündigen, sondern auch einführen, könnte das die Bremswirkung bei den Kosten dämpfen.

Viele Patienten machen sich bereits Hoffnungen: Wird das Hausarztmodell die ungeliebte Praxisgebühr bald ganz ersetzen?

Mit Sicherheit nicht.

Auf dem Arbeitsmarkt sieht es nicht nach Entspannung aus, dadurch fehlen den Kassen Beitragszahler. Muss die Gesundheitsreform noch verschärft werden?

Es wäre sinnvoll, das Mehrbesitzverbot für Apotheken ganz zu kippen...

... was es einem Apotheker erlauben würde, mehr als drei Filialen zu besitzen.

Apothekenketten sind nichts Böses. Dadurch wird Einkaufsmacht und mehr Wettbewerb auf der Einzelhandelsstufe entfaltet – das wirkt preissenkend. Wir brauchen insgesamt mehr Wettbewerb im System. Dazu gehört auch mehr Vertragsfreiheit für die Kassen. Auch die Qualitätssicherung ist noch nicht flächendeckend standardisiert. Da wird man weitermachen müssen, denn die Effizienz eines Gesundheitssystems hängt von der Intensität des Wettbewerbs zwischen den Leistungserbringern und den Versicherungen ab und nicht von der Art der Finanzierung.

Sehen Sie Chancen, dass das noch vor der Bundestagswahl 2006 passiert?

Nein. Ich gehe nicht davon aus, dass Opposition und Regierung sich in dieser Legislaturperiode zu einem weiteren gesundheitspolitischen Kraftakt aufraffen können.

Trotzdem wollen Sie Mitte Juli einen überarbeiteten Entwurf ihres Kopfpauschalenmodells vorlegen . Wie wollen Sie das System retten?

Neben dem weiter zu intensivierenden Wettbewerb ist das größte Problem unseres Gesundheitssystems seine beschäftigungs- und wachstumsfeindliche Finanzierung. Wir müssen die Gesundheitskosten von den Arbeitskosten abkoppeln und eine Antwort auf die konzeptionelle Wachstumsschwäche der Beitragsbasis geben. Auch bei einer Erholung des Arbeitsmarktes werden die steigende Zahl der Rentner, die niedrigen Rentenanpassungen und die völlig richtigen Möglichkeiten der sozialabgabenfreier Entgeltumwandlung das Hinterherhinken der Beitragsgrundlage hinter der Entwicklung des Sozialproduktes verfestigen. Auf dieses fundamentale Problem hat die letzte Gesundheitsreform keine Antwort gegeben – und wohl auch nicht geben wollen.

Werden Sie die Antwort im Juli liefern?

Mein Kollege Wille und ich werden überarbeitete Vorschläge zum Pauschalprämienkonzept vorlegen. Ich glaube, wir werden gangbare Wege zeigen, wie man den Sozialausgleich – sprich: die Umverteilungsaufgabe –, von der Gesundheitsfinanzierung abkoppeln kann.

Welche Kopfprämie müsste der Einzelne dann bezahlen?

Das hängt davon ab, ob man Kinder beitragsfrei bei den Erwachsenen mitversichert oder nicht. Betrachtet man die Absicherung von Kindern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die von allen aus Steuern zu finanzieren ist, dann nimmt man sie aus der Pauschale heraus. Ohne Kinder sinken dann die Prämien für Erwachsene, dafür steigt aber der Bedarf an Steuermitteln enorm an.

Was kostet die Pauschale ohne Kinder?

Erwachsene müssten um die 160 Euro zahlen. Wir sind noch am Rechnen.

Kritiker lehnen die Kopfpauschale ab, weil die Krankenschwester und der Topmanager den gleichen Beitrag zahlen müssen. Ist die Kopfpauschale unsozial?

Nein. Denn zum Konzept der Gesundheitspauschale gehört der soziale Ausgleich, um eben eine Überforderung der Ärmeren zu verhindern. Die Umverteilungsintensität hängt von der politischen Entscheidung ab, wie viel Prozent des Einkommens man dem Einzelnen als Eigenleistung bei der Krankenversicherung zumutet.

Wie viel müsste der Steuerzahler für Kinder und Niedrigverdiener dazuzahlen?

Wenn wir bei dem jetzigen kasseninternen Umverteilungsvolumen bleiben, müssten etwa 28 Milliarden Euro über Steuern finanziert werden.

Und wo soll das Geld herkommen?

Man könnte alle Arbeitgeberanteile als Lohn an die Versicherten auszahlen und die so erhöhten Einkommen ganz normal besteuern. Das würde derzeit 18 Milliarden Euro bringen.

Fehlen immer noch zehn Milliarden Euro. Woher nehmen Sie die?

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man füllt die Lücke mit Steuern oder man erhebt – neben der Gesundheitspauschale – einen zusätzlichen einkommensabhängigen Kassenbeitrag. Ein Prozentpunkt würde zehn Milliarden Euro einbringen. Beides würde dann in einen Umverteilungsfonds innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung fließen.

Der Gesundheitsexperte der Union, Seehofer, und CSU-Chef Stoiber haben Sympathie mit ihrem Modell bekundet. Erwarten Sie auch Unterstützung von der Koalition?

Bei den Grünen gibt es eine relevante Gruppe, die mit dem Pauschalprämienmodell sympathisiert. Die SPD lehnt die Pauschalprämie dagegen mehrheitlich ab und will eine Bürgerversicherung...

...die von allen Erwerbsfähigen und durch einen einkommensteuerähnlichen Beitrag auf alle Einkommensarten finanziert wird und darum als sozial gerechter gilt.

Ich gebe zu: Die Bürgerversicherung hat einen entscheidenden Vorteil: ihren Namen. Der suggeriert Wärme, Geborgenheit und solidarisches Füreinander. Es werden Umverteilungswünsche und Gleichbehandlungsbedürfnisse befriedigt, aber das fundamentale ökonomische Problem – die Wachstumsschwäche der Beitragsbasis – wird nicht gelöst und die beschäftigungsfeindliche Verkoppelung von Gesundheitskosten und Arbeitskosten nur geringfügig gelockert.

Kann Ihr Modell noch eine politische Mehrheit finden?

Noch hoffe ich auf eine große Koalition der gesundheitsökonomischen Vernunft. Ich glaube, dass das, was ökonomisch nicht richtig ist, auch politisch auf Dauer nicht klug und richtig sein kann.

Das Gespräch führte Maren Peters.

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