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Die Debatte um den Mindestlohn: Außer Kontrolle

Schlachtereien, Werften, Versandhändler: Ein Billiglohnskandal folgt auf den nächsten. Die Regierung aber schmückt sich mit der historisch niedrigen Arbeitslosenzahl.

Jeden Morgen um sechs Uhr verlässt Martin Müller (Name geändert) das Haus, elf Stunden später kehrt der 42-Jährige zurück – mit 56 Euro. Acht Stunden fährt der gelernte Busfahrer am Tag in Dessau und Umgebung, die Pausen dazwischen werden nicht bezahlt. Am Ende des Monats hat der Vater von drei Kindern 1000 Euro netto, um sich und seine Familie zu versorgen. „Wir kommen auch dank des Kindergeldes so gerade über die Runden“, sagt Müller. Auch bei den anderen Busunternehmen in Sachsen-Anhalt sieht es nicht besser aus. „Alle zahlen um die sieben Euro pro Stunde.“ Als Müller noch in Nordrhein-Westfalen lebte, vor Jahren, da bekam er zehn Euro pro Stunde.

Müller gehört mit seinem Stundenlohn von sieben Euro zu den sieben Millionen Geringverdienern im Land. Einer aktuellen Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zufolge verdient ein Viertel der Beschäftigten hierzulande weniger als 9,54 Euro brutto pro Stunde, die als Niedriglohnschwelle gelten. Damit ist die Geringverdienerquote in Deutschland höher als in Staaten wie Zypern, Bulgarien oder Polen. Besonders im Osten werden viele Mitarbeiter schlecht bezahlt. Und die Quote ist gestiegen: 1995 waren nur 18 Prozent der Arbeitnehmer hierzulande Geringverdiener. Besonders betroffen von den niedrigen Gehältern sind Frauen, Jüngere, Ausländer, Teilzeitkräfte und Arbeitnehmer in Kleinbetrieben. Und die wehren sich zunehmend gegen die Niedriglöhne, wie die jüngsten Streiks beim Versandhändler Amazon und im Einzelhandel zeigen.

Rumänische Arbeiter bekamen 3,50 Euro Stundenlohn

Erst vor ein paar Wochen verbrannten zwei rumänische Arbeiter einer Werkvertragsfirma, die Aufträge für die Meyer Werft in Papenburg ausführte, in einer überfüllten Betriebsunterkunft. Sie hatten nach Angaben ihrer Angehörigen für einen Stundenlohn von 3,50 Euro geschuftet, außerhalb des Schutzes von Tarifverträgen. Bei Dienstleistern von Zalando und Amazon kamen durch Medienberichte kürzlich untragbare Arbeitsbedingungen an die Öffentlichkeit, von zu wenigen Toiletten bis hin zu überfüllten Unterkünften. Die „Lohnsklaven“ in den Schlachtbetrieben schreckten sogar die EU- Kommission auf. Denn es scheint, als würde Deutschland einen Teil seines Wachstums auf Kosten der Arbeitnehmer erwirtschaften. Die Lohnstückkosten sind niedrig, seit Jahren müssen die Beschäftigten Reallohnverluste hinnehmen.

Während in 20 Ländern der EU gesetzliche, flächendeckende Mindestlöhne gelten – in fünf davon sogar oberhalb von 8,50 Euro pro Stunde – hält sich die Bundesregierung bei dem Thema zurück. Und das obwohl tarifliche Mindestlöhne immer wieder umgangen werden – etwa durch Werkverträge oder Pseudogewerkschaften, die extrem niedrige Stundensätze mit den Arbeitgebern aushandeln. In manchen Branchen, wie dem Handel, gelingt es erst gar nicht, einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn zu erreichen, weil zu wenige Beschäftigte tarifgebunden sind. So steht ein großer Teil der Belegschaften ohne Schutz da.

Die Zahl der Arbeitslosen ist so niedrig wie seit gut 20 Jahren nicht mehr

Schwarz-Gelb hat den Arbeitsmarkt im Wahlkampf zum Jubel-Thema auserkoren. Von Vollbeschäftigung schwärmen die Konservativen im Wahlprogramm. Die Statistik spielt der Regierung dabei in die Hände: Die Zahl der Arbeitslosen ist so niedrig wie seit gut 20 Jahren nicht mehr, die Zahl der Erwerbstätigen liegt mit 42 Millionen so hoch wie noch nie. Während in Griechenland jeder zweite Jugendliche arbeitslos ist, und es die Südeuropäer nach Deutschland zieht auf der Suche nach Jobs, geht die Krise am deutschen Arbeitsmarkt vorbei. Das sorgt für gute Umfrageergebnisse. „Die Regierung profitiert davon, dass die Arbeitslosigkeit niedrig ist und die Konjunktur gut läuft“, sagt Parteienforscher Ulrich von Alemann. Daher sei das Thema Arbeit Bevölkerungsumfragen zufolge derzeit nicht mehr das wichtigste im Wahlkampf. Die Hoffnung, dass es mit der Wirtschaft weiter aufwärts gehe, sei groß. „Die Opposition wirkt da mit ihrer Arbeitskampagne wie ein Miesmacher“, sagt von Alemann.

Weil die Arbeitlosigkeit so niedrig ist, geht es nun stärker um Arbeitsbedingungen und Löhne. Während SPD, Grüne und Linke geschlossen den gesetzlichen Mindestlohn fordern, nur in unterschiedlicher Höhe, wollen CDU und FDP den Status quo beibehalten. Werkverträge, Minijobs und Leiharbeit sollen nicht angetastet werden, sie seien wichtige Arbeitsmarktinstrumente. Immerhin sprechen sich Konservative wie Liberale im Wahlprogramm für mehr tarifliche Branchenmindestlöhne aus – vor ein paar Jahren wäre das undenkbar gewesen. „Auch die CDU ist in in ihrer Regierungszeit nach links gerückt“, sagt Werner Eichhorst, Arbeitsmarktexperte am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA). Zugleich profitiere Bundeskanzlerin Angela Merkel noch immer von den Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder. „In den vergangenen vier Jahren hat Schwarz- Gelb im Bereich des Arbeitsmarktes fast nichts auf den Weg gebracht.“

Kommt der Mindestlohn, wird es Streit um die Höhe geben

Sollte es zu einer großen Koalition kommen, stehen die Chancen gut für einen gesetzlichen Mindestlohn, glaubt Eichhorst. Dann werde es Zank um die Höhe geben, und darum, wer diese festlegt. „Wir halten einen moderaten gesetzlichen Mindestlohn für vertretbar“, sagt der Experte. Am besten solle dieser von einer Expertenkommission vorgegeben werden. 8,50 Euro pro Stunde, wie es SPD und Grüne fordern, hält Eichhorst aber für zu hoch. „Man sollte eher niedrig beginnen und die Auswirkungen der Lohngrenze beobachten.“

Martin Müller hofft auf 8,50 Euro. „Die Firmen in unserer Branche feilschen um jeden Cent“, sagt er. „Aber wenn alle den Mindestlohn zahlen müssen, wird’s schon gehen.“ Dann hätten die Leute auch mehr Geld in der Tasche. „Vielleicht können sie dann auch mehr von unseren Busreisen buchen“, sagt er und lacht.

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