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Wirtschaft: „Die Löhne müssen sinken“

Der Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, über die Rentenversicherung, den Sozialstaat und die Wirksamkeit der Arbeitsmarktreformen

Herr Sinn, bekommen wir mit den Reformen, die der Bundestag am Freitag verabschiedet hat, Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze?

Nein, die bringen uns kaum weiter. Die Arbeitslosigkeit geht nur zurück, wenn es mehr Jobs gibt. Und das geschieht nur, wenn die Löhne sinken. Das hat die SPDLinke aber verhindert: Auf ihren Druck hin steht nun in den Hartz-Gesetzen, dass Arbeitslose nur dann einen Job annehmen müssen, wenn sie den ortsüblichen Lohn gezahlt bekommen. Das ist ein entscheidender Fehler, der alle positiven Ansätze der Reform zunichte macht.

Warum?

Die ortsüblichen Vergleichslöhne sind die heute bereits tatsächlich gezahlten Löhne, und bekanntlich gibt es zu diesen Löhnen nicht genug Jobs. Die erforderliche Lohnsenkung, die Jobs schaffen würde, findet nicht statt.

Warum hat die SPD dann aber das Gesetz eingebracht?

Dass wir niedrigere Löhne für die gering Qualifizierten brauchen, damit für sie Jobs entstehen, und dass der Sozialstaat die Massenarbeitslosigkeit, die ihn so teuer zu stehen kommt, selbst verursacht hat, ist eine unbequeme Wahrheit, die viele nicht wahrhaben wollen, auch die Sozialdemokraten nicht . Wenn man zynisch wäre, müsste man sagen, dass ein Aufschwung jetzt sogar zur falschen Zeit käme.

Warum?

Wenn es 2004 einen Boom gäbe, wäre die Reformdiskussion, die jetzt endlich geführt wird, vermutlich schnell wieder zu Ende. Das war nach der Standortdebatte 1997/98 auch so. Als der Boom kam, glaubten viele, Deutschland stehe ein ewiges Wachstum bevor. Die schon damals notwendigen Reformen blieben aus. Wenn wir sie noch einmal verschieben, verlieren wir wertvolle Jahre.

Wenn die deutsche Wirtschaft einen kräftigen Aufschwung hinbekommen kann, kann die Lage doch so schlecht nicht sein.

Unsere Probleme haben wenig mit der Konjunktur zu tun. Selbst wenn wir einen Super-Boom kriegen, wird die Arbeitslosigkeit um kaum mehr als eine halbe Million zurückgehen. Nur 15 Prozent der Arbeitslosigkeit gehen auf das Konto der schwachen Konjunktur – 85 Prozent dagegen gehen auf Strukturprobleme zurück.

Wie sollen mehr Arbeitsplätze entstehen?

Durch deutlich niedrigere Steuern und Lohnkostensenkungen, die sich auf den Niedriglohnsektor konzentrieren. Wenn die Löhne sinken und die Leute länger arbeiten, schaffen die Unternehmen neue Arbeitsplätze und lassen Menschen statt Maschinen in den Fabrikhallen arbeiten. Entscheidend ist dafür, dass der Sozialstaat umgebaut wird.

Wie?

Im Augenblick haben wir eine perverse Situation: Nicht nur die Unternehmen konkurrieren um Beschäftigte, sondern der Sozialstaat konkurriert mit den Unternehmen. Der Sozialstaat bietet den Leuten Einkommen, wenn sie sich zu ihm gesellen, statt in der Privatwirtschaft zu arbeiten. Mit diesen Einkommen können die Unternehmen im Bereich der gering Qualifizierten vielfach nicht mehr mithalten. Es ist der Gipfel der Perversität, dass sie ihrem Wettbewerber über die Lohnnebenkosten auch noch die von ihm ausgezahlten Einkommen bezahlen müssen. Das vernichtet noch mehr Arbeitsplätze.

Wie kann man das ändern?

Statt den Transferbezug an die Nichtarbeit zu knüpfen, sollte der Staat das Arbeiten belohnen. Er sollte im Niedriglohnsektor Lohnzuschüsse zahlen und Sozialhilfebeziehern erlauben, mehr Geld hinzuzuverdienen. Wer gesund ist und trotzdem keine Arbeit annimmt, dem muss die Sozialhilfe drastisch gekürzt werden.

Ist das sozial gerecht?

Ja, wenn die Kommunen zugleich dafür sorgen, dass jedermann notfalls zu einem Lohn in Höhe der heutigen Sozialhilfe bei ihnen arbeiten kann. Die in der privaten Wirtschaft beschäftigten gering Qualifizierten werden mehr Geld in der Tasche haben als heute. Und wer auf den Staat angewiesen ist, hat nicht weniger Geld als heute. Der Zielerreichungsgrad der Sozialpolitik steigt.

Das klingt, als seien Sie für den Sozialstaat.

So ist es. Die Umverteilung von Reich zu Arm muss es weiterhin geben, denn die reine Marktwirtschaft erzeugt zu viel Ungleichheit. Aber jeder muss einen Beitrag leisten, wenn er die volle Unterstützung beansprucht. Das muss die Devise für den neuen Sozialstaat sein.

Wenn der Staat künftig allen Bürgern Lohnzuschüsse zahlt, wird es teuer.

Nein. Pro Zuschussempfänger muss der Staat weniger zahlen als heute, weil ja im Regelfall ein selbst verdientes Arbeitseinkommen vorhanden ist. Andererseits sind mehr Menschen zu unterstützen als heute, weil auch die Löhne der bereits beschäftigten gering Qualifizierten fallen werden. Das ist der Mitnahmeeffekt, den man einkalkulieren muss.

In Ostdeutschland gibt es viel zu wenig reguläre Jobs – wie sollen die Leute dort über die Runden kommen?

In den neuen Ländern gibt es bald eine Million Arbeitnehmer, die nach der Wende ihren Arbeitsplatz verloren haben und bis heute vergeblich darauf warten, dass ein Investor kommt und ihnen mehr als die Arbeitslosenhilfe zahlt. Die Investoren gehen lieber nach Polen, Tschechien oder sonst wo hin. Mit dem alten System der sozialen Sicherung wird es im Osten nie einen sich selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung geben.

Ist es richtig, was die Regierung jetzt in der Rentenversicherung tun will?

Sie darf den Beitrag auf keinen Fall weiter erhöhen, sonst steigt die Arbeitslosigkeit noch stärker und der Generationenkonflikt eskaliert. Die Koalition sollte, ähnlich wie die Herzog-Kommission es empfiehlt, den Rentenbeitrag und den Zuschuss aus dem Bundeshaushalt deckeln. Das würde dazu führen, dass die Renten bis 2035 im Vergleich zu den Bruttolöhnen auf die Hälfte sinken. Wer keine Kinder hat, muss die so entstehende Lücke durch private Pflichtvorsorge à la Riester schließen. Wer hinreichend viele Kinder hat, dem gebührt eine zusätzliche Rente.

Kürzen, sparen, streichen – gibt es keine anderen Rezepte gegen die Rentenmisere?

Doch. Eine Zuwanderung, die im Bereich der Krisenjahre ab etwa 2020 einsetzt, würde helfen, und ebenso würde der sofortige Anreiz, mehr Kinder in die Welt zu setzen, helfen. Die Rentenversicherung ist eine Versicherung gegen Kinderlosigkeit, denn sie versorgt im Alter auch solche Menschen, die keine Kinder bekommen konnten. Das ist im Prinzip in Ordnung. Sie hat aber dazu geführt, dass die Absicherung der Zukunft bei der individuellen Lebensplanung keine Rolle mehr spielt. Die Sozialisierung der Beiträge der Kinder hat im Laufe der letzten hundert Jahre erheblich dazu beigetragen, die Geburtenrate zu senken.

Welcher Politiker sollte Ihre nicht besonders populären Ideen umsetzen?

Angela Merkel, Edmund Stoiber, Wolfgang Clement, Roland Koch, Georg Milbradt und der Landesregierung von Schleswig-Holstein traue ich das zu.

Was ist mit dem Bundeskanzler?

Ich weiß nicht, ob er sich damit beschäftigt hat. Er ist ohnehin schon in der Schusslinie der Linken.

Warum ist der Widerstand so stark?

Die Politiker reden immer davon, dass wir ein Umsetzungs- und kein Erkenntnisproblem haben. Das stimmt nicht. Weder die Regierungen von Bund und Ländern noch die Bürger haben verstanden, wie stark der Sozialstaat die Wirtschaft bremst. Ein Problem ist auch, dass mehr als 40 Prozent aller Wähler ihr hauptsächliches Einkommen als Transfer oder Rente aus der Staatskasse beziehen. Zusammen mit ihren Angehörigen stellen sie heute vermutlich schon die absolute Mehrheit der Wahlberechtigten.

Warum sollten sie zustimmen, wenn es ihnen ans Leder geht?

Wir können sie nur überzeugen, dass der Staat ohne Umbauten eines Tages vor die Wand fahren wird. Und dann haben auch diejenigen den Schaden, die von der Umverteilung zu profitieren scheinen.

Müsste sich Frau Merkel auch mit den Gewerkschaften anlegen wie Margaret Thatcher?

Das müsste sie. Denn die Gewerkschaften haben zu viel Macht. Mit dem Flächentarifvertrag haben sie ein Kartell etabliert, das einen Mindestpreis für menschliche Arbeit erhebt und strikt darauf achtet, dass kein Kartellmitglied diesen Preis unterbietet. In Zukunft müssen angeschlagene Betriebe das Recht haben, mit Zustimmung der Belegschaft auch dann nach unten hin vom Tariflohn abzuweichen, wenn die bei den Gewerkschaften und im Unternehmerverband vertretenen Konkurrenten sich darüber ärgern.

Wie schnell kann Deutschland seine Probleme überwinden?

In Großbritannien haben die Thatcher-Reformen nach etwa zehn Jahren ihr volle Wirkung entfaltet. Das wird bei uns nicht anders sein. Es geht heute um Veränderungen, die das Land zum Ende des Jahrzehnts wettbewerbsfähig machen. Ohne sie wird der Abstieg beginnen.

Wer Reformen vorschlägt, muss den Leuten eine Perspektive zeigen. Was ist Ihre?

Wenn wir das Land jetzt umbauen, werden wir die kommenden Jahre glimpflich überstehen, und die Wirtschaft wird mäßig wachsen. Geschieht nichts, wird es ein schleichendes Siechtum über Jahrzehnte geben. Wir können das noch abwenden.

Das Gespräch führten Carsten Brönstrup und Ursula Weidenfeld .

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