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Wirtschaft: Die neue Generation europäischer Aktionäre

Stellen Sie sich vor, es gibt einen Börsensturz und niemanden kümmert es.Genau das ist am vergangenen Mittwoch passiert: Trotz des Einbruchs von 3,4 Prozent an der Wall Street zuckten große und kleine europäische Anleger nur mit den Schultern und behielten ihre Aktien.

Stellen Sie sich vor, es gibt einen Börsensturz und niemanden kümmert es.Genau das ist am vergangenen Mittwoch passiert: Trotz des Einbruchs von 3,4 Prozent an der Wall Street zuckten große und kleine europäische Anleger nur mit den Schultern und behielten ihre Aktien.

Niemanden juckte es, als Europas Aktienindizes um drei Prozent oder mehr im frühen Handel abrutschten.Die meisten europäischen Anleger blieben standhaft - selbst die Kleinaktionäre, von denen viele fürchteten, sie würden beim ersten Zeichen eines Kursrückgangs die Flucht ergreifen.Einige gingen stattdessen sogar auf Schnäppchenjagd: Im Schlußhandel hatten wichtige Indizes einen Teil ihrer Verluste sogar in Gewinne umgekehrt.

"Es wäre lächerlich, beim kleinsten Sturm sofort zu wechseln", sagte Lionel Poilane, der 52jährige Gründer der Boulangerie Poilane, eine der führenden Bäckereien Frankreichs.Poilane, der erst seit wenigen Jahren in Aktien investiert, hat sein Portfolio von Blue Chips in dieser Woche nicht angerührt.

Eine neue Generation europäischer Anleger ist entstanden.Während viele Amerikaner unruhig werden ob eines Rückgangs von Unternehmensgewinnen, gehen Warnungen an den Europäern offenbar spurlos vorüber.Neue Tricks erhalten zur Zeit Hilfe von alten Traditionen: Mit langfristigen Anleihe-Investitionen aufgewachsen, sind europäische Aktionäre zu einer Kaufen-und-Halten-Gruppe geworden.Sie haben gelernt, sich Aktien am Tiefpunkt zu schnappen, sie in Krisenzeiten zu halten und sich an langfristigen wirtschaftlichen Entwicklungen zu orientieren anstatt an täglichen Markt-Schwankungen.Das macht viel aus.

"Das ist doch nur ein Sommerschauer", sagte Santiago Fernandez, Chefinvestor bei Funditel, des 460-Mrd.-Peseten-Pensionsfonds (rund 5,3 Mrd.DM) der Spanischen Telekom-Gruppe Telefonica SA."Die Grundlagen sind besser als in den USA, so daß wir am Mittwoch an den spanischen, deutschen und französischen Akteinmärkten gekauft haben." Hinter diesem Selbstbewußtsein liegen solide Wirtschaftsdaten.Die europäischen Inflationsraten sind niedrig, Konsumausgaben hoch und die Unternehmensgewinne steigen in diesem Jahr voraussichtlich trotz Asienkrise um etwa 17 Prozent."Wir sind in einer relativ günstigen Zyklusphase in Europa", hat Michael Clauss, Ökonom der Credit Suisse First Boston, festgestellt.Mit Unternehmens-Restrukturierungen und Zinsen auf historischem Tiefstand ist es das einzig Vernünftige, in Aktien anstatt in Staatsanleihen zu investieren.

Das europäische Selbstbewußtsein spiegelt zudem die Tatsache wider, daß Europas Bullenmarkt, an dem die Kurse steigen, immer noch den der USA aufholt.Während US-Aktien zu einem sehr hohen Preis-Gewinn-Verhältnis gehandelt werden, sind europäische Aktien vergleichsweise billig.Die Konsequenz: Der pan-europäische DJ Stoxx 50-Index hat seit dem 1.Januar um 30, der Dow Jones der Industriewerte lediglich um 12 Prozent zugelegt.

Viel Geld fließt in Europas Aktienmärkte - Morgan Stanley Dean Witter prognostiziert eine Summe von 13 Billionen Dollar (rund 23 Bill.DM) zwischen heute und dem Jahr 2010."Wir sind im Jahr drei von 15 Jahren hoher Liquidität", sagt Teun Draaisma, einer der europäischen Strategen der Firma, in London voraus.

Einige der neuen europäischen Aktionäre sind so begeistert vom Markt, daß sie ihre Portfolios sogar in den traditionell heiligen Sommerurlaub mitnehmen.Zum Beispiel Luciano Biasi, ein 41jähriger selbständiger Berater in Mailand.Er ist auf dem Weg zum Strand in Capri, aber er hat sein Laptop dabei mit Satellitentelefon und Internetverbindung und rechnet damit, zu handeln, falls sich der Markt bewegen sollte."Es ist egal, wo du bist", sagt er, "du bist ein Teil des Spiels."

Diese Art von Begeisterung könnte allerdings schnell verdampfen angesichts so häßlicher Kursstürze wie der von 22,6 Prozent im Dow Jones Industrials am Schwarzen Montag 1987.Aber natürlich ist es einfacher, ruhig zu bleiben, wenn man nur auf dem Bullenmarkt Aktien gekauft hat wie viele Europäer.Phil de Christo, Managing Director von Fidelity Investment Europa, ist trotzdem erstaunt, wie ruhig europäische Aktionäre am vergangenen Mittwoch geblieben sind: "Die Zahl der Telefonanrufe blieb auf normalem Level, und verkauft wurde praktisch nicht", sagte er.Das Gleiche berichten Börsenmakler aus ganz Europa: "Wir hatten bereits das Notfall-Programm vorbereitet und die Telefonleitungen nur für Käufe umgestellt", sagte Markus Reiter, ein Direktor des deutschen Discount-Maklers Direkt Anlage Bank."Aber das Aufkommen war normal, so daß wir uns wieder dem Alltagsgeschäft widmen konnten." Auch das Online-Geschäft sei ruhig geblieben, sagte Reiter, und es sei mehr gekauft als verkauft worden.

Die Europäer waren in der Vergangenheit keine großen Aktienhändler und ihre Angewohnheit, an jeder Aktie festzuhalten, die sie besitzen, hat ihnen in den letzten Wochen durch den Zickzack-Kurs hindurch geholfen.

Europäische Anleger sind dabei, wichtige Lektionen im Aktienspiel zu lernen.Im letzten Oktober, als die Preise in der ganzen Welt plötzlich einstürzten, haben viele Europäer verkauft, dann aber ihre hastige Entscheidung bereut, als sich die Märkte wieder hochschwangen.Nun aber werden sie cleverer."Man muß nicht nur beim Verlassen des Marktes die richtige Entscheidung treffen, sondern auch beim Wiedereintritt, und die Wahrscheinlichkeit, beides richtig zu machen, ist sehr gering", sagt Hans-Rüdi Mosberger, Direktor der Beraterfirma Fank Russell AG in Zürich.

Verändert hat sich in Europa auch die Art, sich über die Aktienmärkte zu informieren.Vor allem das Internet bietet eine Menge Informationen und Firmendaten sind dort viel schneller abrufbar als vor ein paar Jahren.Eine weitere Entwicklung unter europäischen Anlegern ist die Tendenz, sich zusammenzuschließen, um Aktienwissen zu teilen und Anlagen breit zu streuen - meistens in Investment-Clubs.In England etwa gibt inzwischen mehr als 2600 Clubs; 1996 waren es lediglich 300.

Nicht alle Anleger in Europa aber handeln so besonnen wie viele in der letzten Woche.Und das beunruhigt die Analysten."Wir nennen die, die wir nicht einschätzen können, italienische Taxifahrer-Anleger", sagt Nick Gliden, Londoner Analyst.Der italienische Aktienmarkt hat in diesem Jahr die größten Schwankungen in Europa erlebt, und keiner weiß, wie er im Ernstfall reagiert.

ROBERT BONTE-FRIEDHEIM, SARA CALIAN

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