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Wirtschaft: „Die Ostdeutschen sind moderner“

Der Präsident des Hallenser Wirtschaftsforschungsinstituts, Ulrich Blum, über Bürokratie im Westen und Experimente im Osten

Herr Blum, was bringt das neue Jahr für die ostdeutsche Wirtschaft?

Wir haben gute Chancen, beim Wachstum zum Westen aufzuschließen oder sogar leicht darüber zu liegen – zum ersten Mal seit fünf Jahren. Davon können sich die neuen Länder aber nichts kaufen, weil dieses Wachstum viel zu gering ist. Weder für den Arbeitsmarkt noch für das Steuer und das Sozialsystem kann es Entwarnung geben. Der Aufschwung ist noch zu mickrig.

Woher stammt das Wachstum in den neuen Ländern?

Aus der Industrie. Das ist eine Erfolgsstory mit zeitweise zweistelligen Wachstumsraten. Die Betriebe sind modern und flexibel und die Gewerkschaften kooperieren oder haben wenig zu sagen. Natürlich profitieren die Firmen auch vom Exportboom. Allerdings darf der Euro-Wechselkurs nicht dramatisch anziehen, ebenso wenig können wir neue Turbulenzen beim Ölpreis gebrauchen. Mit etwas Glück schaffen wir dann ein Wachstum von 1,3 Prozent.

Warum ist nicht mehr drin, die Weltwirtschaft boomt doch?

Die Industrie hat gute Chancen, weil im Westen seit Jahren zu wenig investiert wird, im Osten dagegen noch Kapazitäten brach liegen. Die Industrie ist aber zu klein, um allein den Aufschwung zu tragen. Die Baubranche schrumpft immer noch, auch 2005. Würde man das herausrechnen, hätten wir seit Jahren mehr Wachstum als der Westen.

Wie wird die Hartz-IV-Reform den Osten verändern?

Langzeitarbeitslose werden sich wieder an Arbeit gewöhnen. Ich fürchte, dass sie aber als Ein-Euro-Jobber Handwerksbetrieben Konkurrenz machen. Im unteren Lohnsegment könnte das Realeinkommen weiter sinken und die Konsumnachfrage würde schwächer. Wie alles in Kombination wirkt, ist schwer vorherzusagen. Hinzu kommt noch das allmählich sinkende Rentenniveau, weil jetzt die Leute in Rente gehen, die seit der Wende immer wieder mal erwerbslos waren. Das bislang hohe Rentenniveau der Nachwendezeit als einzigartige Kombination aus westdeutschem Rentenrecht und ostdeutscher Versicherungsbiografie, die Unterbrechungen nicht kannte, sinkt. Und damit schwindet die Kaufkraft.

Was bedeutet das für das Selbstwertgefühl der Menschen?

Es besteht die Gefahr, dass sich die Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse fühlen, weil es nicht spürbar besser wird und sie keine Chancen sehen. Dabei wollen sie ja arbeiten, das gehört seit jeher zum Ethos in dieser Gegend. In den Dreißigerjahren gehörten Halle, Leipzig, Dresden, Chemnitz und Jena zu den reichsten Landstrichen Europas mit der Chemie-, der Fahrzeug-, der Maschinenbau- und der Textilindustrie, der Feinwerktechnik, der Optik. Das damalige Durchschnittseinkommen lag über dem, das die spätere DDR erzielt hat.

Immerhin gab es in der DDR keine Massenarbeitslosigkeit.

Massenarbeitslosigkeit gab es auch schon vor der Wende, nur war sie nicht offenkundig. Teilweise lag die Arbeitslosigkeit auch im Sozialismus bei 20 Prozent, die Leute waren nur formal beschäftigt, hatten aber wegen fehlender Vorprodukte, Rohstoffe oder defekter Maschinen nichts zu tun.

Warum braucht der Aufschwung Ost so viel Zeit?

Weil nicht innerhalb von 15 Jahren die Folgen von 40 Jahren Sozialismus zu tilgen sind. Das dauert mindestens eine Generation. Kurzfristig wird der Osten maximal 85 Prozent der West-Wirtschaftsleistung erreichen.

Wieso?

Die Wachstumsbedingungen sind für ganz Deutschland ungünstig. Weiterhin fehlen im Osten Unternehmenszentralen und damit Forschungs- oder Marketingabteilungen mit hoch bezahlten Wissenschaftlern und Managern, Zulieferern und Wertschöpfung. Schauen Sie sich den Süden Bayerns an – bevor Siemens mit seiner Zentrale nach München und Erlangen ging, bevor die vertriebenen Sudetendeutschen den Bayerischen Wald und das Allgäu industrialisierten, gab es dort nur Kühe und Wiesen.

Trotz der Transfermilliarden investieren die Unternehmer im Osten aber zu wenig.

Auch weil es zu lange dauert, bis eine Investition genehmigt wird – nicht nur im Osten. Überall müsste es weniger bürokratisch zugehen; weniger, dafür kompetentere Anlaufstellen sind nötig. Das zeigt der Streit um die Airbus-Startbahn in Hamburg. Es kann nicht sein, dass ein einziger Obstbauer die Sicherung Tausender Arbeitsplätze verhindert.

Immerhin leben wir in einem Rechtsstaat.

Ja, aber wir übertreiben. Der Staat muss Prioritäten setzen, wenn er die Investitionsschwäche überwinden will – da müssen andere Belange erst mal hintan stehen, ohne den Rechtsstaat zu gefährden. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich Länder und Kommunen um jede Investition bemühen, auch von kleinen Firmen. Denn der Fehlschlag einer Ansiedlung wird gegeißelt, selten der Erfolg einer guten Ansiedlungspolitik gewürdigt. Das motiviert aber nicht die Wirtschaftsförderer in den Rathäusern. Dann werden viele schlafmützig; wer nichts tut, macht keine Fehler. Wirtschaftsförderung ist eine Top-Funktion, die strategisch denkende Spitzenkräfte erfordert.

Ist Leipzig, wo die Post Milliarden investiert, eine Ausnahme?

Zum Glück. Das neue Logistikzentrum wird der Region noch einmal einen Schub geben, nachdem schon BMW und Porsche gekommen sind. Auf diese Investition hat die Stadt lange hingearbeitet. Anfang der Neunzigerjahre war klar, dass es langfristig kaum noch Flughäfen mit Nachtflugverkehr geben würde. Da haben die Leipziger den Flughafen so umgebaut, dass die startenden und landenden Jets nicht mehr über Wohngebiete fliegen müssen. Das war weitsichtig.

Wird Berlin einen ähnlichen Schub durch seinen Flughafen erleben?

Berlin kommt nicht zu Potte. Der Flughafen müsste seit mindestens fünf Jahren in Betrieb sein. Der Region entgehen so Tausende Arbeitsplätze und Milliarden an Steuereinnahmen. Denn die großen Investitionen im Luftverkehr sind gelaufen. Ob das aufzuholen ist, bezweifle ich.

Warum ist Sachsen das wirtschaftlich beste ostdeutsche Bundesland?

Es war nach der Wende schneller beim Aufbau von Universitäten und Verwaltungen. Und es hat von Anfang an sparsam gewirtschaftet. Das Geld, das andere heute für Zinsen ausgeben, können die Sachsen in Ansiedlungen und Investitionen stecken. Sie hatten nach der Wende allerdings auch den Vorteil, an alte Industrietraditionen anknüpfen zu können.

Gibt es etwas, das der Westen vom Osten lernen kann?

Ja. Bei Daimler-Chrysler, Karstadt- Quelle oder Opel wurde in diesem Jahr über Lohnkürzungen gestritten. Im Osten ist die Produktion viel wettbewerbsfähiger und flexibler, weil die Löhne geringer sind. Die Werke hier werden den Stammwerken noch das Leben schwer machen. Bekanntlich bilden auch die Universitäten im Osten besser aus, weil die Fakultäten kleiner sind und die Betreuung intensiver ist. Generell sind die Ostdeutschen moderner als ihre Landsleute im Westen – vor allem im Kopf. Sie wissen, was Umbruch und Neubeginn bedeuten. Heute, wo sich alles wandelt, ist das wertvoll. Man sollte nicht den Fehler machen, den Osten abzuschreiben.

Sie empfehlen Ost-Bedingungen für die gesamte Republik?

Im Osten zeigt sich, dass das vom Westen kommende Sozialstaatsmodell nicht mehr lange funktionieren wird. Es stößt durch die Globalisierung an seine Grenzen – das merkt der Westen nur wegen seines großen Wohlstands noch nicht. Es besteht aber die Gefahr, dass uns die industrielle Basis verloren geht, weil es keine neuen Investitionen gibt. Deshalb müssen die neuen Länder zur Modellregion werden, in der mehr Experimente und Deregulierung erlaubt sind. Sie müssen, auch durch die Föderalismusreform, mehr Rechte bekommen, um sich selbst aus der Krise zu befreien.

An welche Experimente denken Sie?

Wir müssen die Leute zu mehr Selbstständigkeit ermuntern, weil die Zeit der Investitionen großer Konzerne vorüber ist. Das funktioniert mit einer besseren, spezialisierten Ausbildung. Und mit einem anderen Steuersystem, bei dem der Schwerpunkt auf indirekten Steuern liegt. Auch die Finanzierung der Sozialversicherung muss vom Faktor Arbeit getrennt werden. Denkbar sind auch andere Formen der Entlohnung. Denn den Wettbewerb um den geringsten Lohn kann auch der Osten nicht unbegrenzt mitmachen.

Und das alles bringt Investitionen?

Ja, wenn die Arbeitnehmer bereit sind, zum Beispiel auf einen Euro Bruttolohn zu verzichten, das sind netto etwa 50 Cent, sinken die Kosten des Unternehmens um 1,70 bis 2,50 Euro. Damit sie trotzdem ordentlich verdienen, sollten die Firmen ihre Mitarbeiter umfangreich am Gewinn beteiligen – und der Hebel wäre enorm.

Das Gespräch führte Carsten Brönstrup.

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