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Wirtschaft: Die Sozialversicherung wird privatisiert

DEN HAAG .Völlig unerwartet haben sich jetzt die Arbeitgeber und Gewerkschaften in den Niederlanden über die Privatisierung eines weiteren Bereichs der sozialen Sicherheit geeinigt.

DEN HAAG .Völlig unerwartet haben sich jetzt die Arbeitgeber und Gewerkschaften in den Niederlanden über die Privatisierung eines weiteren Bereichs der sozialen Sicherheit geeinigt.Sie wollen die Ausführung der Arbeitslosen- und der Invaliditätsversicherung privaten Versicherungen übergeben.Mit der Einigung, die Kabinettspläne übertreffen, überraschten die Sozialpartner die Koalition in Den Haag, die seit den Parlamentswahlen vom 6.Mai über eine Neuauflage des sozial-liberalen Bündnisses verhandeln.

Die Übereinkunft ist eine Premiere in den Niederlanden, da sich die Tarifparteien bislang über die Privatisierung der Sozialleistungen nicht einigen konnten.Beide Seiten sprechen von einer "historischen Vereinbarung", der Sozial-ökonomische Rat (SER) begrüßte die Einigung ebenfalls.Diese von Regierung ernannte Expertengruppe berät das Kabinett in allen sozialen und wirtschaftlichen Fragen.

Die Regierung hatte kurz vor den Parlamentswahlen eine Änderung des Systems der Arbeitslosenversicherung vorgeschlagen.Die privaten Unternehmen sollten weiter die Beiträge zahlen, jedoch sollte ein nationales Institut für die Beurteilung der Sozialleistungsempfänger entstehen.Es sollte auch Leistungen kürzen, beispielsweise wenn sich jemand bei der Arbeitsplatzsuche nicht genügend anstrengt.Bislang waren das Aufgaben halbstaatlicher Institutionen.

Mit der Einigung sind diese Pläne überholt.Insbesondere die Arbeitgeber fanden die Kabinetts-Vorschläge zu bürokratisch, zu teuer und mit dem Risiko von Kompetenzstreitigkeiten behaftet.Daher schlugen die Sozialpartner vor, die Beurteilung unter strengen Voraussetzungen ebenfalls Privatbetrieben zu überlassen.Die Betriebe müssen dafür gesonderte Abteilungen bilden, die ohne Gewinn arbeiten und von den Sozialpartnern beaufsichtigt werden.

Privatisierung bedeute nicht zugleich Kommerzialisierung, sagten beide Seiten.Laut den Gewerkschaften wird sich an der Höhe und Dauer der Leistungen nichts ändern."Dies ist ein Wendepunkt: Wir reißen das Sozialsystem nicht mehr ein, sondern bauen es gemeinsam auf", sagte ein Vertreter des Gewerkschaftsdachverbandes FNV.Ursprünglich waren die Gewerkschaften gegen eine Privatisierung.Sie änderten ihren Standpunkt jedoch, da die Kabinettspläne für sie keine Rolle im neuen System vorgesehen hatten.Stattdessen billigte der Entwurf den Arbeitgebern die alleinige Entscheidung über die Wahl der Versicherer und den Inhalt der Verträge zu.Durch die Einigung mit den Arbeitgebern hätten beide Seiten denselben Einfluß, sagte Agnes Jongerius vom FNV.

Der Vorsitzende des Arbeitgeberdachverbandes Hans Blankert rief die Politik zum Handeln auf.Die Übereinkunft habe "die Basis geschaffen für eine verantwortungsvolle Modernisierung des Systems der sozialen Sicherheit." Das Kabinett könne die einstimmige Ansicht des SER und die breite gesellschaftliche Tragfläche nicht negieren, meinte ein SER-Sprecher.Flip Buurmeijer, Vorsitzender des Landelijk Instituut Sociale Verzekeringen, des koordinierenden Organs im System der Sozialen Sicherheit, meint hingegen, der Vorschlag garantiere (noch) nicht ausreichend, daß die Sozialleistungen tatsächlich unabhängig zugewiesen werden.

Die Privatisierung der Sozialversicherungen soll die Kosten senken.Die Idee ist, daß die privaten Versicherer wegen des Wettbewerbs schneller und billiger arbeiten als die Betriebsvereinigungen.Der Versicherer Interpolis hat die Privatisierung der Arbeitslosigkeitsversicherung vorweg genommen und dazu mit einer Zeitarbeitsfirma einen Versuch gestartet.Das Ergebnis: Die Ausfalldauer von kranken Arbeitnehmern verkürzte sich um acht Wochen.

Seit fünf Jahren privatisieren die Niederlande schrittweise Teile des sozialen Netzes.Die ersten waren die Betriebsärzte.Jedes Unternehmen ist gesetzlich verpflichtet, sogenannte Arbodienste anzunehmen.Im März 1996 wurde die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall Sache der Arbeitgeber.Sie können sich bei privaten Versicherern gegen dieses Risiko absichern.Teilprivatisiert wurden außerdem die Arbeitsunfähigkeitsversicherung und die Witwen- und Waisenversorgung.

Die bisherigen Ergebnisse mit privatisierten Sozialversicherungen sind allerdings schwer einzuschätzten.Das namhafte Forschungsinstitut Nyfer in Nijenrode kritisiert ebenso wie andere Institute, daß ältere Arbeitnehmer und Menschen mit einem höheren Krankheitsrisiko seither diskriminiert werden.Kranke Arbeitnehmer erhielten bedeutend weniger Krankengeld, schreibt "Het Financieele Dagblad" unter Bezug auf noch nicht veröffentliche Schätzungen des statistischen Amtes.1997 hätten Arbeitgeber umgerechnet 1,2 Mrd.DM weniger bezahlt, als sie es im Falle der früher üblichen hundertprozentigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall hätten tun müssen.Dies wären fast 15 Prozent der Gesamtkosten.

Stimmen die Zahlen, gerieten die Sozialdemokraten in Bedrängnis.Sie forderten immer, daß bei Veränderungen im System der sozialen Sicherheit die Höhe und Dauer der Leistungen unangetastet bleibt.Genaue Zahlen über die privatisierten Sozialleistungsmärkte gibt es jedoch nicht."Kein einziges öffentliches Organ in den Niederlanden kontrolliert die Entwicklung der Märkte, die durch die Privatisierung der sozialen Sicherheit entstehen", kritisiert "Het Financieele Dagblad", das eine Studie dazu machte.Das Statistikamt in Den Haag will sich nun angeblich verstärkt um eine Erfolgskontrolle bemühen.Doch wann diese kommt ist unklar.

SUSANNE BERGIUS (HB)

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