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Die Ungleichheit ist in Deutschland so groß, wie kaum einem anderen EU-Land, kritisiert DIW-Präsident Marcel Fratzscher.

© REUTERS

DIW-Chef Marcel Fratzscher: "Kapital und Arbeit sollten gleich besteuert werden"

Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kritisiert Ungleichheit durch zu wenig sozialen Aufstieg. Im Interview fordert er mehr Unterstützung durch Reiche.

Von Carla Neuhaus

Herr Fratzscher, Sie argumentieren, dass die Ungleichheit in Deutschland so groß ist wie in keinem anderen Land der EU. Wie kommen Sie darauf?
Das zeigt das Gesamtbild verschiedener Indikatoren. Nehmen Sie die Vermögensverteilung in Deutschland, die die höchste Ungleichheit in der Euro-Zone aufzeigt. Den reichsten zehn Prozent der Deutschen gehören knapp zwei Drittel der Vermögen, während die untersten 40 Prozent praktisch gar nichts zur Seite legen können. Oder nehmen Sie die Einkommen: Bei der unteren Hälfte sehen wir bei den Reallöhnen seit 2000 praktisch keinen Anstieg mehr, was die Kaufkraft angeht – während die Reallöhne der oberen zehn Prozent in dieser Zeit sehr stark gestiegen sind. Am schwersten wiegt allerdings ein dritter Punkt: die Ungleichheit bei den Chancen.

Was meinen Sie damit?
Den wenigsten Deutschen gelingt es, sich einen höheren Lebensstandard zu erarbeiten, als den, in den sie hineingeboren werden. In Deutschland gehen 70 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien zur Universität – bei den Nicht-Akademikern sind es gerade einmal 20 Prozent. Die Herkunft ist also entscheidend. So erreichen auch nur 20 Prozent der deutschen Kinder einen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern: Damit bildet Deutschland unter den Industrieländern in Punkto Chancengleichheit mit der Tschechischen Republik das Schlusslicht.

Dass es so schlimm ist, würden wohl die Wenigsten schätzen. Wie kommt das?
Zum einen haben viele Deutsche Arbeit. Dies ist ein sehr positiver Aspekt, der aber auch viele Probleme überdeckt. Gleichzeitig stimmt es nicht, dass wir diese Entwicklung in der Gesellschaft überhaupt nicht wahrnehmen. Das sieht man an den Reaktionen auf die Flüchtlingskrise: Viele lehnen sich auf – aus Angst, dass für sie dadurch noch weniger bleibt. Dabei ist unser eigentliches Problem die fehlende Chancengleichheit. Und die war schon lange da, bevor die Flüchtlinge zu uns gekommen sind.

Trotzdem dürfte die Flüchtlingskrise die Ungleichheit noch einmal verstärken.
Das stimmt. Viele Flüchtlinge haben geringe Qualifikationen und werden eher geringfügig entlohnte Jobs annehmen. Dadurch steigt der Druck auf die sozialschwachen Schichten in Deutschland nochmal an.

Andere Ökonomen meinen: Deutschland stehe im Vergleich zu anderen Ländern noch gut da. Ist das Ansichtssache?
Wie man argumentiert, hängt davon ab, welche Indikatoren man anschaut. Viele betrachten vor allem das verfügbare Einkommen – also das Einkommen ohne Steuern und mit Transferzahlungen. Dabei liegen wir tatsächlich etwa im Durchschnitt der OECD-Länder. Allerdings ist das nur so, weil die Transferzahlungen wie Renten, Sozialhilfe oder Kindergeld in den letzten Jahren weiter gestiegen sind – und das obwohl sie vorher schon sehr hoch waren. Das heißt, der Staat verteilt sehr viel um.

Ist das so schlimm?
Es ist ein schlechtes Zeichen. Schließlich sollten Menschen von ihrer Arbeit gut leben können. Aber das ist in Deutschland immer weniger der Fall. Dabei brauchen wir eigentlich nicht mehr Umverteilung sondern weniger. Es muss uns gelingen, den Menschen wieder bessere Chancen zu geben, einen guten Bildungsabschluss zu bekommen und ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Dadurch würden mehr Menschen beruflich erfolgreicher und der Staat könnte sich etwas zurückziehen. Gleichzeitig würde die Wirtschaft wettbewerbsfähiger, mehr wachsen und mehr Wohlstand schaffen.

Wir leben in einer sozialen Marktwirtschaft. Da gehört Umverteilung dazu.
Natürlich. Aber die Idee der sozialen Marktwirtschaft ist es, dass jeder eine realistische Chance bekommt und ähnlich gefördert wird. Doch davon sind wir heute sehr viel weiter entfernt als noch in den sechziger oder siebziger Jahren.

Woher kommt es diese Ungleichheit?
Das Problem liegt vor allem im Bildungsbereich. Zum Beispiel wird noch immer viel zu wenig in die frühkindliche Bildung investiert. Auch fehlt es uns massiv an Ganztagsschulen – gerade für Kinder aus bildungsferneren Familien. Wir sehen eine Ghettobildung, die sich durch die unterschiedliche Qualität von Schulen noch einmal verstärkt.

Dass Eltern, die es sich leisten können, Kinder auf Privatschulen schicken, ist dabei bestimmt auch nicht förderlich, oder?
Privatschulen sind das eine. Aber das fängt schon allgemein bei den privaten Bildungsausgaben an. So gibt es heute sehr viel mehr Nachhilfe als früher. Genutzt wird sie allerdings vor allem von Eltern, die sich das finanziell leisten können.

Das klingt wie ein Vorwurf an die Eltern.
Nein, das soll es nicht sein. Im Gegenteil. Es ist ja wünschenswert, dass die Eltern sich einbringen und ihre Kinder fördern - sei es durch Sport, Musikunterricht oder Nachhilfe. Aber gerade deshalb hat der Staat die Aufgabe, den Kindern zu helfen, die diese Möglichkeiten nicht haben, so dass die Schere eben nicht immer größer wird.

Die Lösung wären also mehr staatliche Bildungsausgaben?
Vor allem im frühkindlichen Bereich sollten die Bildungsausgaben erhöht werden. Es kann nicht sein, dass Universitäten umsonst sind, aber im frühkindlichen Bereich die Kosten hoch ausfallen. Dazu kommt aber noch, dass wir mehr Steuergerechtigkeit brauchen.

Inwiefern?
Ob beim Ehegattensplitting oder bei der Erbschaftssteuer: Menschen mit hohem Einkommen oder Vermögen werden in der Regel besser behandelt als Geringverdiener. Es kann aber doch nicht sein, dass jemand der 50.000 Euro erbt, schlechter gestellt wird als jemand, der 50 Millionen Euro über ein Unternehmen erbt.

Wäre eine Vermögenssteuer eine Lösung?
Davon halte ich wenig. Der Staat braucht nicht noch mehr Steuereinnahmen. Aber Steuergerechtigkeit heißt zum Beispiel auch, dass Kapital und Arbeit gleich besteuert werden. Derzeit haben wir eine Kapitalertragssteuer von 25 Prozent – beim Einkommen geht es auf bis zu 45 Prozent hoch. Menschen, die Einkommen durch Kapital erzielen, werden also besser gestellt als die, die arbeiten gehen.

Könnten Reiche von sich aus etwas tun, um die Ungleichheit zu verringern. Zum Beispiel einen Teil Ihres Vermögens spenden?
Sicher würde das helfen. In den USA wird es erwartet, dass Erfolgreiche der Gesellschaft etwas zurückgeben. In Deutschland sehen wir es dagegen als Aufgabe des Staates an, sich um die Sozialschwachen zu kümmern. Da könnten wir einiges von den Amerikanern lernen. Wir sollten einen stärkeren Dialog darüber führen, was gesellschaftliche Verantwortung heißt. Es gibt hierzulande zwar eine starke Kultur des Ehrenamts. Aber dass man die Gesellschaft auch finanziell unterstützt, ist noch relativ neu. Das muss erst noch in unseren Köpfen ankommen.

Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). In seinem kürzlich erschienen Buch „Verteilungskampf: Warum Deutschland immer ungleicher wird“ kritisiert er die fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten in der Gesellschaft. Die Herkunft nicht der Wille entscheide, wer im Berufsleben Erfolg hat. Zudem seien Einkommen und Vermögen stark ungleich verteilt. Fratzscher argumentiert: Aus dem „Wohlstand für alle“, den einst Ludwig Erhard als Ziel ausrief, ist ein „Wohlstand für wenige“ geworden. Und das habe Folgen: Es schwächt das Wachstum, hemmt Investitionen und verhindert bessere Jobs.

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