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Ehemalige Industriehalle in Kalk.

© imago/Future Image

Droht eine Deindustrialisierung?: Die Gefahr lauert ganz woanders

Die Warnungen vor Fabrikschließungen wegen hoher Energiekosten sind weit überzogen. Gefahr droht der deutschen Wirtschaft von ganz anderer Seite.

Ein Gastbeitrag von Dalia Marin

Vor wenigen Monaten grassierte in Deutschland die Angst vor einem entbehrungsreichen Winter. Angesichts des Stopps russischer Erdgaslieferungen und explodierender Preise sorgte man sich vor Stromausfällen und Energierationierungen. Städte planten bereits, Sportstätten in „Wärmehallen“ für Arme und Alte umzuwandeln. Doch die Kassandrarufe wurden von der Wirklichkeit widerlegt. Deutschland erwies sich im Lichte der historischen Herausforderung als widerstandsfähiger, als viele geglaubt hatten.

Da die Winter-Ängste verflogen sind, tritt nun neben den Sorgen um das Banken-Beben wieder das Gespenst der Deindustrialisierung in den Vordergrund. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht vor Fabrikschließungen gewarnt wird.

So erklärte DGB-Chefin Yasmin Fahimi, die Energiekrise werde zu Deindustrialisierung und Massenentlassungen führen. Die staatliche KfW Bankengruppe befand, Deutschland stehe „vor einer Ära sinkenden Wohlstands“. Und das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim bezeichnete die Bundesrepublik als „großen Verlierer“ der Weltwirtschaft.

Wie erklärt sich die düstere Stimmung? Deutsche Wirtschaftsführer malen seit April 2022 wieder die Gefahr einer Deindustrialisierung an die Wand – damals hatte die deutsche Politik den Boykott russischen Gases erwogen. Komme es dazu, tönte BASF-Chef Martin Brudermüller, drohe die „Zerstörung der gesamten Volkswirtschaft“.

Brudermüllers Warnung stand in scharfem Kontrast zur Einschätzung einer Gruppe deutscher Ökonomen um Moritz Schularick. Sie erwarteten, dass ein russisches Energieembargo allenfalls eine leichte Rezession verursachen würde. Eine große Volkswirtschaft wie Deutschland, argumentierten sie, habe schließlich viele Möglichkeiten, sich auf einen solchen Schock einzustellen – etwa durch die Suche nach alternativen Lieferanten und den Wechsel zu anderen Energiequellen. Darüber hinaus könne die Regierung eingreifen und die wirtschaftlichen Folgen eines Boykotts abfedern.

Wie sich gezeigt hat, sind die Szenarien der Apokalyptiker nicht eingetreten, selbst nachdem Russlands Präsident Wladimir Putin die Nord-Stream-Pipeline abgeschaltet hatte. Die Bundesregierung fand tatsächlich Alternativen zu russischer Energie, Sparmaßnahmen senkten den Gasverbrauch um 30 Prozent. Die Preise sind von 350 Euro ja Megawattstunde im Sommer inzwischen auf rund 80 Euro gefallen

Es gab keine Stromausfälle und der Rückgang des Gasverbrauchs drückte nicht einmal die Industrieproduktion, weil deutsche Unternehmen effizienter wurden. Die wichtigste Volkswirtschaft Europas hat die wohl größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gut überstanden. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt stieg 2022 um rund 1,9 Prozent.

Die wirkliche Bedrohung des Standorts Deutschland kommt von einer ganz anderen Seite: China hat Deutschland inzwischen in der Rangliste der größten Autoexporteure von Platz zwei hinter Japan verdrängt. Von Januar bis August 2022 exportierten die Chinesen gut 1,8 Millionen Fahrzeuge, die deutsche Autoindustrie hingegen nur knapp 1,7 Millionen. Gleichzeitig stiegen Chinas Autoexporte nach Europa von 133.465 im Jahr 2019 auf 435.080 im Jahr 2021 wegen der wachsenden Nachfrage nach in China hergestellten Elektrofahrzeugen. Ebenso wie Deutschland importiert Europa inzwischen mehr Autos aus China als es exportiert.

Chinas Anteil am globalen Elektrofahrzeugmarkt stieg im vergangenen Jahr dank seiner Dominanz bei der Batterieherstellung und dem Erfolg chinesischer Hersteller wie BYD Auto auf 28 Prozent. Im selben Zeitraum sank der Anteil deutscher Hersteller wie Volkswagen von sieben auf vier Prozent.

Neben der Automobilherstellung bedrohen chinesische Konkurrenten auch den deutschen Maschinenbau – und damit das industrielle Rückgrat des Landes. Der chinesische Export von Werkzeugmaschinen übertrifft mittlerweile die Maschinenexporte aus Deutschland, wie aus einem Anfang 2023 veröffentlichten Bericht des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau hervorgeht.

Während die Maschinenexporte aus Deutschland 2021 um knapp zehn Prozent wuchsen, legten die entsprechenden Exporte aus China um 26 Prozent zu. Ironischerweise spielten in China tätige deutsche Firmen bei dem „Wachwechsel“ eine entscheidende Rolle: Zu Joint Ventures mit chinesischen Partnern gezwungen, beschleunigten sie auch im Maschinenbau den Technologietransfer nach China – und rüsteten so ihren Konkurrenten kräftig auf.

Deutschland hat es im vergangenen Jahr geschafft, sich von russischem Gas zu verabschieden ohne in eine Rezession zu geraten. Aber die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit des Landes ist eine noch größere Herausforderung. Deutschland hat sich vor drei Jahrzehnten vom kranken Mann Europas zum Wirtschaftsmotor gewandelt. Um im zunehmenden Verdrängungswettbewerb des 21. Jahrhunderts bestehen zu können, muss Deutschland sich nun wieder neu erfinden.

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