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Wirtschaft: Eberhard Kroll

(Geb. 1951)||Er hatte sein Leben dem Zusammentragen gewidmet. Nicht dem Hergeben.

Von David Ensikat

Er hatte sein Leben dem Zusammentragen gewidmet. Nicht dem Hergeben. Wir schreiben das Jahr 2007, die Komet I, das erste Flugzeug mit Elektronenstrahlantrieb befindet sich in der Testphase, der Testpilot setzt zur Landung an, da nähert sich ein gelbes Flugzeug der Dakota-Staaten und eröffnet das Feuer.

Auftakt der Science- Fiction-Comic-Serie „Testpilot Speedy“. Das Heft Nr. 1 ist außen bunt und innen schwarz-weiß, die Komplexität der Zeichnungen entspricht der Handlung. Als das Heft in den Kiosken lag, zum Preis von 20 Pfennig, war 2007 noch 52 Jahre entfernt. Eberhard Kroll war vier Jahre alt. Er war Mitte 20, als er es sich kaufte, 20 Mark hat er bezahlt. Im Allgemeinen Deutschen Comicpreiskatalog, Ausgabe 2006, ist das Heft mit 7800 Euro verzeichnet.

Wo Eberhard Krolls Exemplar sich derzeit befindet, ist unbekannt. Was aus seiner Comicsammlung geworden ist, weiß keiner der Befragten. Sie würden es gerne wissen, sagen sie, denn das war schon eine äußerst interessante Sammlung. Der Comic-Händler sagt: Da ist noch nichts auf dem Markt aufgetaucht. Ich hätte das mitbekommen.

Er hat Eberhard Kroll mal ein Angebot gemacht, das muss Anfang der Neunziger gewesen sein. Kroll, der in ständiger Geldnot war, kümmerte sich inzwischen gar nicht mehr so sehr um die Comics, andere Sammlungen interessierten ihn jetzt mehr. Der Händler schlug vor: Du überlässt mir deine Comics und bekommst dein Leben lang 2000 Mark, jeden Monat. – Man konnte davon ausgehen, dass Eberhard Krolls Leben nicht allzu lang währen würde, so wie der aussah und wie viel der rauchte. Für die Sammlung, so die Kalkulation, wäre genug Geld herausgesprungen, um mit den Zinsen den Sammler zu versorgen. Doch der ließ sich auf den Handel nicht ein. Keine Chance. Eberhard Kroll hatte sein Leben dem Zusammentragen gewidmet, nicht dem Hergeben.

Mag sein, dass er hin und wieder ein wenig umschichtete, dass er mal ein paar Comics weggab, um eine alte Propagandaschrift zu erstehen. Aber das hielt er geheim, als gehöre sich so etwas nicht. Politische Propaganda, vor allem linke, das war sein wichtigstes Sammelgebiet der letzten Jahre. Dazu gehörten Flugblätter, die die Rote Armee über Stalingrad abgeworfen hatte, Plakate des SDS, und auch Videoaufzeichnungen von Beerdigungen kommunistischer Parteichefs.

Es begann in der Schulzeit, besser gesagt: in den Sportstunden, von denen er befreit war. Eberhard Kroll war schon immer von labiler Konstitution, zwar groß, doch hager und eher schwächlich. Während des Sportunterrichts ist er zu dem Buchhändler gegangen, der auch alte Comics hatte, bald mit Listen jener Stücke, die ihm in einer Reihe fehlten.

Die sechziger Jahre waren in West-Berlin für Sammler paradiesische Jahre, denn da gab es die Sperrmüllaktionen. Die Leute warfen den Müll auf die Straße, und vor den Stadtreinigern kamen stets die Sammler. Eberhard Kroll war besonders stolz auf ein seltenes Heft, mit einer hässlichen Reifenspur quer überm Titelbild. Er hatte es auf so einem Müllhaufen gefunden und war ganz darin versunken, als das Müllauto kam. Im letzten Augenblick konnte er zur Seite springen, ließ dabei das Heft fallen, und das Müllauto fuhr drüber. Die Reifenspur hätte für andere Sammler eine ärgerliche Schmälerung des nominellen Wertes dargestellt. Aber Eberhard Kroll sammelte ja nicht für andere, sondern ausschließlich für sich.

Er ist in einem Heim aufgewachsen und lebte dann lange Jahre bei einer Tante in Steglitz. Die muss ein sanftes Gemüt gehabt haben, denn ihre Badewanne durfte Eberhard als Auffanglager für die Neuanschaffungen nutzen, für die Hefte die er noch einsortieren musste.

So hielt er es auch später in seiner kleinen Wohnung in Siemensstadt: Neues kam in die Wanne. Die war natürlich immer voll. Leute, die Eberhard Kroll zu Hause besucht haben – viele waren das nicht –, berichten von schmalen Gängen zwischen Kisten, Papierstapeln und nikotingefärbten Wänden.

Eberhard Kroll hat nie richtig gearbeitet, angestellt, für Geld. Nur ein paar Monate lang in einer Bibliothek, das war wohl eine ABM-Stelle. Aber sie wollten ihn da nicht länger haben, weil ihnen sein Äußeres nicht passte. Er trug die Haare immer lang und auch den Bart. Und wenn er gerade keine Zigarette an hatte und keinen Kaffee in der Hand, erkannte man an seinen Zähnen seine Süchte. Der Blick durch die runden Brillengläser war ein hellwacher, aber was zählt das schon bei der Bewertung öffentlichen Auftretens?

War Eberhard Kroll ein glücklicher Mensch? Er hatte seine Sammlungen, er lebte für die Sammlungen, war ständig unterwegs in den Antiquariaten der Stadt, auf Flohmärkten und Sammlerbörsen. Er war ein Mann. Männer können sich in solchen Sachlichkeiten verlieren. Man bekommt unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dem Glück, niemals schnelle. Zwei langjährige Bekannte aus der Sammlerszene vermuten: Der hat ein Leben gelebt, das er sich ausgesucht hat. Er wollte es gar nicht anders. Da wird er wohl glücklich gewesen sein.

Ein anderer sagt: Glücklich? Eher nicht. Da gab es immer eine Bitterkeit, dass die Gesellschaft keinen festen Platz für einen wie ihn hatte. Dieser Bekannte sagt auch, dass Eberhard Kroll ein Einzelgänger war, einer, der nirgends dazugehören wollte. Oder konnte.

Warum, zum Beispiel, hat er nie in einem besetzten Haus gewohnt? Er steckte ja in dieser linken Szene drin, keine Demonstration ohne ihn, wenn Steine flogen auch mal mit Sturzhelm auf dem Kopf. Die Bekannten mit der Glücksvermutung sagen, dass er wegen seiner Sammlungen nie in so einem Haus hätte leben können – für Sammler fehle da das nötige Verständnis. Der andere Bekannte sagt, dass Eberhard Kroll zwar dem Comicsammlerverein angehört habe, aber einer Politgruppierung niemals, völlig unmöglich. Er habe sich nirgends einordnen wollen. Zu den Demonstrationen sei er vor allem wegen der Propagandamaterialien gegangen, die sie dort verteilten.

Da gibt es die Geschichte mit der Mauer. Es war Anfang der Achtziger, die Junge Union veranstaltete auf dem Ku’damm eine Demonstration gegen die Mauer. Wie es sich gehörte, gab es auch eine Gegendemonstration. Da war Eberhard Kroll dabei, ein Bekannter aus dem Comicverein, der auf Seiten der Jungen Union demonstrierte, erkannte ihn. Am Tag darauf las der Bekannte die Bild-Zeitung, da haben sie aus Anlass der Demonstration ein paar Berliner zur Mauer interviewt, und wer sah ihm aus der Zeitung entgegen? Kroll mit den langen Haaren und der Meinung, dass die Mauer ein riesengroßes Unrecht sei. – Der war so links, dass er schon wieder rechts war, diagnostiziert der Sammlerkollege zufrieden.

Sie haben Eberhard Kroll irgendwann nicht mehr in die DDR gelassen, wer weiß, was er da angestellt hat. Vielleicht haben sie ihn auch nur beim Comicschmuggel erwischt. Er soll die Mosaik-Redaktion in Ost-Berlin mit Asterixheften versorgt haben. Besonders wichtig war ihm der Ost-Fußball. Zu den Spielen des Mielke-Clubs BFC Dynamo ist er immer rübergefahren. Wimpel der DDR-Oberliga hat er auch gesammelt.

Und dann gab es noch die Amiga-Platten-Sammlung. Die ist wichtig, denn von den Amiga-Platten handelt Eberhard Krolls Vermächtnis – wenn man das Buch, dessen Verfasser er war, so nennen will. Es ist, was sonst, ein Katalog: „Die 30-cm-LP’s der Serie Amiga 850/55 (1963-1984) des VEB Deutsche Schallplatten (Berlin/DDR)“. Die Platten sind darin vollständig aufgeführt, mit Coverbild, Titelliste und allen anderen Angaben von der Plattenhülle. Selbstverständlich befanden sich alle Amiga-Platten in Eberhard Krolls Besitz. Er hat sogar ein paar Comics verkauft, um sich eine Stereo-Anlage zum Hineinhören anschaffen zu können.

In letzter Zeit sprach er von einem Plasma-Fernseher, so einen wollte er sich zulegen, wegen der Fußball-WM und für die Videos, die sich bei ihm stapelten. Wertvolle Sammlungsstücke zu verkaufen, kam natürlich nicht in Frage, er erschloss sich lieber ein ganz neues Betätigungsfeld: Dosen und Flaschen. Kein Zweifel, Eberhard Kroll hätte sich seinen Plasmafernseher ersammelt, so entschlossen und organisiert, wie er die Sache anging. Aber die Zeit blieb ihm nicht mehr. Im Juni ist er an Lungenkrebs gestorben.

Zu seiner Beerdigung kamen vier Leute. Es wären bestimmt mehr gekommen, aber Eberhard Kroll wollte nicht, dass die Sammlerszene zu früh von seinem Tod erfährt. Er wusste ja, was die vor allem interessierte.

Schon vor Längerem hat ihn der Comichändler gefragt, ob er ein Testament gemacht hat. Was sollte denn mit der Sammlung geschehen? – Mir doch egal, hat Eberhard Kroll gesagt. Kann alles auf die Müllkippe. Wenn ich tot bin, bin ich tot.

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