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Wirtschaft: "Ein bis zwei Generationen werden geopfert"

Horst Opaschowski über den Verteilungskampf um Jobs, den Wunsch nach Stabilität und das Chamäleon-Gesicht des modernen ArbeitnehmersTAGESSPIEGEL: Herr Opaschowski, Sie haben in den 80er Jahren den Verteilungskampf um knappe Arbeit vorhergesagt.Sind wir jetzt soweit?

Horst Opaschowski über den Verteilungskampf um Jobs, den Wunsch nach Stabilität und das Chamäleon-Gesicht des modernen Arbeitnehmers

TAGESSPIEGEL: Herr Opaschowski, Sie haben in den 80er Jahren den Verteilungskampf um knappe Arbeit vorhergesagt.Sind wir jetzt soweit?

OPASCHOWSKI: Der richtige Verteilungskampf steht uns erst noch bevor.Arbeit wird immer mehr zur Mangelware.Aber noch ist der Leidensdruck nicht groß genug.Die meisten Menschen müssen sich um ihr Existenzminimum keine Sorgen machen, und die Angst vor dem Wohlstandsklau hält sich noch in Grenzen.

TAGESSPIEGEL: Während immer mehr schweigend leiden?

OPASCHOWSKI: Noch.Die amerikanische Verhältnisse mit hohen Mauern und ständiger Video-Überwachung gibt es noch nicht.Aber wenn es bei der Massenarbeitslosigkeit bleibt, dann werden sie kommen - und mit ihnen die sozialen Konflikte.

TAGESSPIEGEL: Ein Vorschlag gegen die Arbeitslosigkeit ist die Rente mit 60.Was halten Sie davon?

OPASCHOWSKI: Ich bin mehr für eine flexible, nicht starre Altersgrenze als Rentenbeginn, zum Beispiel zwischen 55 und 65.Das habe ich in den 70er Jahren vorgeschlagen, und ich stehe noch heute dazu.Es wäre gut für die Beschäftigung, weil der Nachwuchs Jobs bekäme.Es hätte eine soziale Komponente, denn jeder Ältere könnte individuell entscheiden.Und so wäre die Frühverrentung mit partiellem Lohnverzicht, etwa von 15 bis 25 Prozent, finanzierbar.

TAGESSPIEGEL: Wer macht das freiwillig?

OPASCHOWSKI: Ich praktiziere das System selber.Ich habe an der Uni den Antrag gestellt, mein Einkommen um 25 Prozent zu senken.Ich vermute, ich bin nicht der einzige in Deutschland, der mit einer solchen Lebensgestaltung zufrieden ist.Unsere Befragungen haben ergeben: Vier Millionen Arbeitnehmer wären bereit, weniger zu arbeiten und weniger zu verdienen.

TAGESSPIEGEL: Viele beschwören gegen die Beschäftigungsmisere amerikanische Verhältnisse - zum Beispiel mehr Dienstleistungs-Jobs und häufigere Arbeitsplatzwechsel.

OPASCHOWSKI: Das sind keineswegs amerikanische Verhältnisse.Es sind auch englische oder niederländische, die als positive Vorbilder gelten.Aber die meisten vergessen die soziale Gegenrechnung.

TAGESSPIEGEL: Wie sieht die aus?

OPASCHOWSKI: Diese Verhältnisse kennzeichnen die Rund-um-die-Uhr-Gesellschaften.Die Menschen produzieren rund um die Uhr, und sie konsumieren rund um die Uhr.Jeder will alles immer und überall haben - das ist eine Anspruchsrevolution.Die vernichtet das traditionelle Zeitsystem.

TAGESSPIEGEL: Was haben Sie gegen Bedürfnisbefriedigung rund um die Uhr?

OPASCHOWSKI: Das Prinzip der Flexibilität beherrscht sämtliche Lebensbereiche.Nichts hat Bestand, alles ist rund um die Uhr abrufbar.Auf Stabilität kann man sich kaum noch verlassen.

TAGESSPIEGEL: Die Menschen haben das Bedürfnis nach Stabilität?

OPASCHOWSKI: Es wird sogar immer größer.Wir haben unlängst gefragt, was eigentlich zum Wohlfühlen dazugehört.An erster Stelle steht die Geborgenheit.

TAGESSPIEGEL: Was gehört denn demnach am wenigsten zum Wohlfühlen?

OPASCHOWSKI: Überraschenderweise die Freiheit - und das sagt sowohl die jüngere als auch die ältere Generation.Je mehr Freiheiten wir haben, umso mehr sehnen wir uns nach Sicherheit und Orientierung, die ja keiner mehr gibt.

TAGESSPIEGEL: Ist das die Krise des Kapitalismus - des Systems, in dem die Freiheit das wichtigste Element ist?

OPASCHOWSKI: Es scheint so zu sein.Nur haben die Menschen von sich aus nicht die Kraft, die Bedürfnisse umzusetzen.Der Streß im Alltag nimmt immer mehr zu, damit wächst der Wunsch nach Ruhe und In-Ruhe-gelassen-werden.Aber niemand ist in der Lage, sich aus Aktionismus und Betriebsamkeit zu befreien.Hinter allem steht die Angst, im Leben etwas zu verpassen.

TAGESSPIEGEL: Wo suchen die Menschen die Orientierung?

OPASCHOWSKI: Immer mehr im individuellen Konsum.Happiness is our business, sagt Walt Disney.Unterhaltung und Medien sind das wichtigste Ventil, außerdem Sekten, Psychopharmaka und Entspannungsmaschinen, produziert von der Langeweile-Verhinderungs-Industrie.

TAGESSPIEGEL: Früher gab Arbeit die Orientierung.

OPASCHOWSKI: Die klassische Arbeitsgesellschaft geht zuende.Das Industriezeitalter hört auf zu bestehen.Aber es kommt eine neue Leistungsgesellschaft.Das Leben besteht dann nicht mehr nur aus Arbeit und Freizeit, sondern aus Leistung und Lebensgenuß.Zur Leistung zählt die Arbeit, aber nicht nur.Sport und soziales Engagement, auch unbezahlte Leistungen kommen dazu.

TAGESSPIEGEL: Wo stehen die Deutschen mit der Anerkennung der unbezahlten Leistung heute?

OPASCHOWSKI: Lediglich 18 Prozent der Deutschen engagieren sich im Vergleich zu 27 Prozent im europäischen Durchschnitt.Jeder zweite Amerikaner, aber nur jeder achte Deutsche hat in den vergangenen zwölf Monaten ehrenamtliche Arbeit geleistet.Und: Während sich die Amerikaner vor allem im sozialen und kirchlichen Bereich für andere engagieren, stehen bei uns fast nur eigene Interessen im Vordergrund: Bürger- und Verbraucherinteressen, Sport, Freizeit.

TAGESSPIEGEL: Ja und?

OPASCHOWSKI: Zeit und Geld machen unseren Wohlstand aus.Aber dabei bleibt es nicht, denn finanziell ist der Zenit wohl überschritten.Aber Zeit haben wir immer noch viel mehr als alle anderen Leute auf der Welt.Denken Sie an unseren Urlaub.Wir Deutschen haben deutlich mehr Ansprüche als Amerikaner und Japaner zusammen.

TAGESSPIEGEL: Wollen wir darauf verzichten?

OPASCHOWSKI: Mehr und mehr von uns müssen das wohl oder übel tun.Denn ehe das Budget kleiner wird, schränken die Menschen lieber ihre Freizeit ein.Der Trend geht zum Zweit- oder Drittjob.

TAGESSPIEGEL: Bleibt damit die Loyalität gegenüber dem Hauptarbeitgeber auf der Strecke?

OPASCHOWSKI: Ja.Aber das ist nur die Gegenreaktion.Die Unternehmen haben sie mit ihrem Prinzip der Flexibilität angestoßen.Sprachgeschichtlich hatte das Wort Job im Englischen des 14.Jahrhunderts die Bedeutung eines Klumpens, den man einfach hin und her schieben kann.So ist es heute mit den Arbeitnehmern wieder.Man ist flexibel, geht keine Bindungen ein, bringt kein Opfer.Wir befinden uns ständig im Aufbruch.

TAGESSPIEGEL: Wo ist das Problem?

OPASCHOWSKI: Der optimale Arbeitnehmer ist so beweglich, daß er nicht mehr bereit ist, sich hochzudienen, Firmentreue auszuüben, loyal zu sein.Viele sind innerlich immer auf dem Absprung, verbergen die latente Illoyalität hinter einem Chamäleon-Gesicht.Loyalität wird nur noch demonstriert, aber es gibt sie kaum mehr.

TAGESSPIEGEL: Wer ist schuld?

OPASCHOWSKI: Jedenfalls will keiner der Schuldige sein.Jeder reicht die Verantwortung weiter: die Arbeitnehmer an die Unternehmen, die wiederum auf die Globalisierung verweisen.

TAGESSPIEGEL: Wer bleibt auf der Strecke?

OPASCHOWSKI: Ein bis zwei Generationen werden gerade geopfert.

TAGESSPIEGEL: Warum?

OPASCHOWSKI: Ein Beispiel: Nur drei Prozent der Menschen machen Gebrauch von den modernen Medien-Möglichkeiten wie dem Internet.97 Prozent fristen ihr Dasein als passive Fernsehkonsumenten.Sie sind in ihrer Entwicklung seit 30 Jahren stehen geblieben.Die Informationsgesellschaft ist noch weit entfernt.Es wird sie erst dann geben, wenn die Jungen mehrheitsfähig sind.Bis dahin fährt ein radikaler Strukturwandel über uns hinweg.Doch die Politik macht vom Zukunftsdenken keinen Gebrauch.

TAGESSPIEGEL: Sie sind seit Jahren auch Politik-Berater.Was haben Sie erfahren?

OPASCHOWSKI: Die Politik macht nur das, was gerade ankommt.Fragen Sie die neue Regierung, was nach dem Jahr 2003 auf uns zukommt - da kriegen Sie keine Antwort.Die denken doch nur bis zur nächsten Bundestagswahl.Das ist fatal.Niemand bereitet das Leben kommender Generationen vor.

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