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Wirtschaft: Einblicke ins Tagebuch

Mit derselben Geschwindigkeit, mit der in China plötzlich mündige Verbraucher entstanden sind, versuchen die Unternehmen nun, ihre Produkte zu verkaufen - vom Shampoo bis zu den Schuhen: Der Geschmack der Chinesen ändert sich, bevor Marktforscher herausfinden können, was sie anmacht. Das zwingt Menschen wie Linda Kovarik, Planerin bei der Werbeagentur Leo Burnett, neue Wege bei der Informationsbeschaffung zu beschreiten.

Mit derselben Geschwindigkeit, mit der in China plötzlich mündige Verbraucher entstanden sind, versuchen die Unternehmen nun, ihre Produkte zu verkaufen - vom Shampoo bis zu den Schuhen: Der Geschmack der Chinesen ändert sich, bevor Marktforscher herausfinden können, was sie anmacht. Das zwingt Menschen wie Linda Kovarik, Planerin bei der Werbeagentur Leo Burnett, neue Wege bei der Informationsbeschaffung zu beschreiten. Als sie kürzlich versuchte, sich mit dem Denken der modebewussten chinesischen Teenager vertraut zu machen, der einflussreichsten Verbrauchergruppe des Landes, versuchte sie es mit neuen Methoden statt der üblichen Fragebögen und ausgewählten Testgruppen. "Chinesische Jugendliche sind in Testgruppen viel zu schüchtern", sagt sie.

Stattdessen dachte sie sich einen neuen Fragekatalog aus, um modebewusste Jugendliche zu finden. Sie fragte etwa: "Vermischst du zwei Sorten Lippenstifte?" und "Zupfst du deine Augenbrauen?". Sie gab jedem Teenager ein schickes Notizbuch und eine Wegwerfkamera und bat sie, über ein paar Themen nachzudenken. Sie war erstaunt über die Ergebnisse. Einige Notizbücher lasen sich wie persönliche Tagebucheintragungen, mit Geständnissen über Freunde, Schule und Ängste; andere verbreiteten sich über Mode und Hoffnungen für die Zukunft.

Rain, eine 17-Jährige aus Shanghai, die nach eigenen Angaben gefärbte Haare hat, eine rosa getönte Sonnenbrille und ein mit Pailletten besetztes Halstuch trägt, schrieb: "Die Kids der 80er Jahre waren idealistischer. Wir sind emotionaler." Markenklamotten interessieren sie nicht groß. "Ich denke, ich bin genauso kreativ wie ein Designer, deshalb mag ich es, meinen eigenen Stil zu kreieren." Die Notizbücher boten einen seltenen Einblick in das private Leben von Teenagern.

Leo Burnett hat die neue Studie bereits erfolgreich eingesetzt. Kreativität in der Marktforschung ist auch erforderlich. Chinas gewaltige Größe und Vielfalt führen dazu, dass die Datenausbeute oft bescheiden ist. Die Dinge ändern sich so schnell, dass selbst genaue Verbraucherstudien alle sechs Monate aktualisiert werden müssen. So dominierten zum Beispiel noch vor wenigen Jahren im chinesischen Einzelhandelssektor riesige staatliche Kaufhäuser, in denen die Verkäufer am Ladentisch ein Nickerchen machten. Heute haben selbst Kleinstädte protzige neue überdachte Einkaufszentren, wo Verbraucher, die vor zehn Jahren noch nie von Haarspülungen gehört hatten, sich jetzt zwischen Vidal Sassoon und Pantene entscheiden. Gleichzeitig ist die Kaufkraft der chinesischen Verbraucher explodiert, was es für die Unternehmen äußerst wichtig macht, genaue Daten zu bekommen. Nach offiziellen Statistiken ist das jährliche verfügbare Einkommen eines städtischen Haushaltes von 4282 Yuan im Jahr 1995 auf 6280 Yuan (854 Euro) im Jahr 2000 gestiegen.

Die Marktforscher sind oft gezwungen, neue Methoden zu entwickeln. Als die Werbeagentur Grey Worldwide versuchte, die chinesischen Essgewohnheiten für den französischen Nahrungsmittelkonzern Danone zu dokumentieren, schreckte sie davor zurück, ein Forschungsinstitut zu beauftragen. "Die Essgewohnheiten waren zu regional", sagt Viveka Chan, Greys Vorsitzende für HongKong und China. Stattdessen arrangierte sie für die leitenden Angestellten von Danone Wochenenden bei chinesischen Familien, so dass sie beobachten konnten, wie diese kochen, essen und einkaufen. "Das hätten wir in keinem anderen Markt machen können, nur in China", sagt Frau Chan. "Die Kunden sind hier bereit, Forschung anders zu betreiben." Sie sind auch bereit, mehr zu zahlen. Werbeagenturen merken, dass sie für die Forschung in China einen größeren Prozentsatz ihres Budgets opfern als sonstwo. Leo Burnett schätzt zum Beispiel, dass die Forschungskosten in Asien ein bis zwei Prozent ihrer Gesamteinnahmen ausmachen. In China sind es fünf bis sieben Prozent.

Dennoch ergeben sich die besten Einblicke oft zufällig. Frau Kovarik erinnert sich, wie sie die Wohnung eines jungen Paares in Baoding nördlich von Peking besuchte. In einer Ecke des Apartments sah sie eine neue Waschmaschine, ein beliebtes Hochzeitsgeschenk in China. Als sie einen verstohlenen Blick hinein warf, entdeckte sie, dass dort Kartoffeln gelagert wurden. Die Eheleute zogen es immer noch vor, die Wäsche per Hand zu waschen. "Es gibt eine goldene Regel in China", sagt sie. "Sag niemals nie."

Gabriel Kahn

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