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Wirtschaft: Elise Tilse

Geb. 1910

Kunst als erstes Lebensmittel für ein Land, das sich selbst zerstört hatte. Er sieht ganz normal aus, der Briefkasten von Frau Tilse in der Karlsruher Straße in Schlachtensee, er ist nicht einmal besonders groß. Doch anders als seine Kollegen zur rechten und zur linken kennt er noch andere Kost als Werbewurfsendungen und Telefonrechnungen.

„Meine liebe, liebe, meine sehr liebe Frau...“ – wer beginnt heute noch so einen Brief? Wer schreibt überhaupt noch? Frau Tilse, die ehemalige Kunstamtsleiterin von Kreuzberg, tat es jeden Tag. An Künstler, an Freunde und an die SPD, in der sie über 70 Jahre kritisches Mitglied war. Natürlich erhielt sie auch viele Antwortbriefe. Acht Aktenmeter Briefe und Zeitschriftenausschnitte sind so zusammengekommen, die jetzt als „Sammlung Tilse“ im Archiv der Berlinischen Galerie gelagert sind, zusammen mit den Grafiken und Bildern, die ihr in all den Jahren von Berliner Künstlern geschenkt worden sind.

Nachmittags um halb fünf kam Frau G., und Frau Tilse diktierte ihr frei aus dem Gedächtnis manchmal drei Schriftstücke, manchmal fünf. Angespannt war die Lage vor und nach Weihnachten und Ostern, man näherte sich dann der Serienproduktion. Denn etwas unerledigt und unbeantwortet lassen konnte Frau Tilse nur schlecht, eine Sache der Disziplin. Sie diktierte, erinnert sie Frau. G., vor allem Briefe an Privatpersonen, auf schlichtem weißem Papier mit Namensprägung. Aber eben solche, in denen nicht nur stand: Mir geht es gut, wie geht es dir? Ihre Briefe handelten von der Welt, der Politik, der Kunst, der Geschichte. Und was in ihnen stand, musste auch stimmen: „Schauen Sie doch bitte mal im Meyers nach, wann das erste Konzil von Nicäa war, ich glaub im Jahr 325.“ Auch mit fast 95, als sie nicht mehr gut gehen, hören und sehen konnte, funktionierten Gedächtnis und Verstand noch einwandfrei.

Frau G. war eigentlich als Zugehfrau zu Frau Tilse gekommen. Nach drei Jahren Haushaltsarbeit in der gediegenen Dreizimmerwohnung mit Parkett, Dienstbotentrakt und abstrakter Malerei an den Wänden sagte Frau Tilse: „Ich befördere Sie, Sie werden meine Schreibkraft.“ Sie nahm sie auch gelegentlich mit zu Ausstellungen und schenkte ihr Bücher: „Lesen Sie, Frau G, lesen Sie Jean Paul. Und natürlich auch Thomas Mann!“

Seit dem Tod ihrer Mutter lebte Frau Tilse allein, in der Wohnung, die sie 1945 von dem späteren SPD-Landesvorsitzenden in Thüringen, Hermann Brill, übernommen hatte. Dafür gingen, so lange es die Gesundheit zuließ, Gäste aus Kunst und Politik ein und aus, wurden mit Kuchentafeln und kalten Platten auf das Üppigste bewirtet.

Ihr Leben lang hat Frau Tilse in Berlin Kontakte geknüpft. Als junge Frau waren es mehr die politischen: im Untergrundkampf gegen die Nazis, die heimliche Aufrüstung, die Zensur. Else Tilse verteilte als Mitglied einer Zelle der Sozialistischen Arbeiterpartei in Charlottenburg Flugblätter, wofür man sie ins SA-Lager warf und später zu einer Gefängnisstrafe verurteilte. Doch auch danach stellte sie den Kontakt mit Oppositionellen nicht ein, besuchte politische Freundinnen im Gefängnis. Das alles mit einer jüdischen Mutter, die nur wegen ihres arischen Ehemanns einen gewissen Schutz genoss, von dem man nie wissen konnte, wie weit er trug. „Frau Tilse war ohne Zweifel eine sehr mutige Berlinerin“, sagt man über sie in der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“.

Nach dem Krieg galt ihre Mission dann ganz der Kultur: Kunstamtsleiterin in Kreuzberg. Eine echte Lebensaufgabe. Kunst als erstes Lebensmittel für ein Land, das sich physisch und moralisch selbst zerstört hatte, für einen bettelarmen Bezirk in Schutt und Asche. Ein unvergleichliches Erlebnis: nach alldem, was war, das erste Mal wieder Schubertlieder hören.

Sie suchte nach Räumen für Theatervorführungen und Konzerte, entdeckte eine Schulaula in der Halleschen Straße, die von keiner Bombe getroffen worden war. Sie organisierte ein Kulturprogramm für Hunderte von DDR-Flüchtlingen, die in einem Übergangsheim in der Cuvrystraße hausten. Lesungen, Kleinkunst, Varieté und Kammerorchester, Kulturprogramm für die proletarischen Massen, die sich den Eintritt ins Theater oder die Oper nicht leisten konnten. Sie versorgte in den Jahren nach dem Krieg bedürftige Künstler mit Lebensmitteln, Farben und Pinseln. Und in die Lobby das Rathauses Kreuzberg hängte sie jahrzehntelang große Werke der abstrakten Malerei aus Berlin, um auch bei den Politikern Sinn für moderne Kunst zu wecken. Nicht immer hatte sie damit großen Erfolg. Viele ihrer Parteigenossen schätzten zwar nicht den röhrenden Hirsch, aber eben doch den bodenständigen Naturalismus .

Als kleines Mädchen ging sie schon an der Hand ihres Vater, der Weinhändler war, ins Museum, ihre Mutter war Hausfrau und konnte den Goethe auswendig. Ihre letzten Briefe diktierte sie einen Tag vor ihrem Tod: Danksagungen zum Jahreswechsel. „Sie war zuweilen streng, und so ungemein kultiviert“, sagt Frau G. Ein Mensch aus einer vergangenen Epoche. „Das konnte auch etwas einschüchtern. Doch wenn man den richtigen Zeitpunkt erahnte, durfte man ihr sogar ein Küsschen auf die Wange drücken.“

Kirsten Wenzel

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