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Wirtschaft: Ende der Schonfrist

Union und SPD müssen bei der Reform nun Farbe bekennen – wie sie zueinander finden sollen, ist unklar

Es bleiben nur 72 Stunden. Wenn die Wahllokale in den drei Ländern am Sonntagabend schließen, haben die Deutschen kaum Zeit zum Ausruhen. Schon am Mittwoch wollen Union und SPD mit den Verhandlungen über das wichtigste Reformprojekt dieser Legislaturperiode beginnen – die Gesundheitsreform. Die Spitzen von Parteien und Fraktionen werden mit der Kanzlerin ausloten, wie der deutsche Medizinsektor in Zukunft organisiert werden soll. „Das ist eines der schwierigsten Projekte überhaupt“, sagt Unions-Fraktionschef Volker Kauder. Das Gelingen wird maßgeblich darüber entscheiden, ob die Große Koalition ein Erfolg wird.

Eine Reform sei unausweichlich, predigen Politiker. Der Gesundheitssektor dürfe nicht länger allein durch Beiträge getragen werden, die an Erwerbsarbeit gekoppelt sind. Denn Millionen Menschen sind ohne Job, immer weniger haben reguläre Arbeit. Die Folge: Kränkelt die Konjunktur, brechen den Kassen die Einnahmen weg. Besserverdienende können sich dem maroden System ohnehin entziehen, indem sie zu einer privaten Kasse wechseln. „Die ganze Reformdebatte dient allein dazu, mehr Geld ins System zu schleusen“, sagt Bertram Häussler, Chef des Gesundheitsforschungsinstituts Iges.

Schon in den Koalitionsverhandlungen konnten sich Schwarz und Rot nicht auf ein Modell einigen. Die Gräben sind tief: Die Bürgerversicherung löst das Problem der hohen Arbeitskosten nicht, moniert die Union. Die Kopfpauschale ist ungerecht, meckern Sozialdemokraten. Viel Zeit bleibt nicht für eine Einigung: Schon im Sommer soll das Gesetz ins Parlament, 2007 soll es in Kraft treten. Alle wissen: Ohne Reform werden die Kassenbeiträge im kommenden Jahr um mindestens einen Prozentpunkt ansteigen. Das kostet Ökonomen zufolge 100 000 Stellen.

Vor kurzem ließ Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) einen Testballon aufsteigen. Demnach sollte es eine Mini-Kopfpauschale von etwa 15 Euro geben, kombiniert mit geringeren, einkommensabhängigen Beiträgen, die auch auf Zins- und Mieteinkünfte erhoben werden. Nicht nur im Bundestag stieß die Idee auf Kopfschütteln. „Einen solchen bürokratischen Unsinn kann sich nur ein Ministerialbeamter oder ein Professor ausgedacht haben“, sagt ein Berliner Experte.

Wie man Bürgerversicherung und Kopfpauschale unter einen Hut bringen kann, ist selbst Fachpolitikern unklar. Über Details mag niemand reden. Nur die Tabus sind bekannt: Die Privatkassen dürften nicht angerührt werden, sagt die gesundheitspolitische Sprecherin der Union, Annette Widmann-Mauz. „Wir werden keine Diskussion um die Existenzberechtigung der privaten Krankenversicherung führen.“ Die SPD ihrerseits liebäugelt mit einer Erhöhung der Einkommensgrenze, ab der ein Wechsel zu Privatkassen möglich ist. Die Assekuranzen sind in Sorge. Sie befürchten auch den Verlust ihrer Altersrückstellungen, einer gigantischen Summe von 88 Milliarden Euro.

Die SPD reagiert allergisch auf jede Form der Pauschalprämie. „Es muss eine gerechtere Finanzierung geben", fordert Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Dass das tendenziell höhere Beiträge bedeutet, verschweigt niemand. „Es muss klar sein, dass es für niemanden billiger wird“, sagt Carola Reimann, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD. Unionspolitikerin Widmann-Mauz sagt, angesichts der Alterung und des medizinischen Fortschritts würden die Ausgaben nicht stabil bleiben oder sinken. „Diese Illusion dürfen wir nicht weiter nähren.“ Allerdings wissen die Fachleute, dass zum Jahreswechsel bereits Mehrwertsteuer und Rentenbeitrag steigen. „Die Leute dürfen nicht den Eindruck haben, dass zusätzliches Geld sofort für eine 30-prozentige Einkommenserhöhung der Ärzte oder für teurere Arzneimittel verfrühstückt wird“, warnt Lauterbach.

Nicht ausgeschlossen ist, dass die Koalition nur eine Mini-Reform schafft, die nach der Wahl 2009 alle Möglichkeiten offen lässt. „Die SPD möchte eine Lösung haben, die nicht den Weg versperrt, einmal eine Bürgerversicherung errichten zu können“, heißt es in der SPD-Spitze.

Raum für Reformen bleibt trotzdem genug – auf der Ausgabenseite. Noch immer ist das deutsche System eines der teuersten der Welt, die Qualität der Behandlung nur Mittelmaß. „Wir brauchen mehr Wettbewerb“, sagt Gert Wagner, Forschungsdirektor beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. „Vor allem zwischen Ärzten und Kassen, aber auch bei den Apotheken.“ Die Gelegenheit dazu sei günstig, meint er, „jetzt, wo die FDP wider Erwarten nicht Regierungspartei ist“.

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