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Am 25. Dezember verbrauchen Berlins Haushalte rund zehn Prozent mehr Strom. Schuld ist der Gänsebraten.

© dpa

Energieverbrauch an Weihnachten: Die Gänsebratenspitze gibt es nicht mehr

Früher fürchteten Gas- und Stromversorger den Energiehunger der Berliner zum Fest – das ist vorbei. Heute gibt es eher eine Kirchgangssenke.

Die älteren Mitarbeiter der Energieversorger berichten noch mit Ehrfurcht von der „Gänsebratenspitze“, einem alle Jahre zu Weihnachten wiederkehrenden Phänomen. Ihre jungen Kollegen, die heute in den Kraftwerken und den Schaltzentralen der Strom- und Gasverteilnetze Dienst tun, halten das eher für Altherrengeschwätz, ein Weihnachtsgruselmärchen.

Auf der Suche nach den Ursprüngen der Gänsebratenspitze geht es tief hinein ins Tagesspiegel-Archiv: In der Ausgabe vom 24.12.1970 berichtete diese Zeitung über die „am stärksten betroffenen Gaswerke“ in Mariendorf und Charlottenburg, die an Weihnachten „keinen Urlaub kennen: Etwa 350 Männer werden in den beiden Gaswerken und an Stationen des Netzes auf einen 24- Stunden-Dienst verteilt“. Der damalige technische Direktor der Gasag, ein Herr Dr. Restien, versicherte den Lesern: Alle 85 Regelanlagen im 4176 Kilometer langen Gasnetz Berlins seien „zu 100 Prozent einsatzbereit“.

Bereit wofür? Am 25. Dezember begann der Gasverbrauch ab zehn Uhr vormittags an zu steigen, weil in hunderttausenden Haushalten gleichzeitig der Braten in die Röhre geschoben wurde. Gegen 13 Uhr wurde beim Gasverbrauch die Spitze des Jahres erreicht. „Das Techniker-Team muss die verhältnismäßig schwerfälligen Gaserzeugungsanlagen dann sehr geschickt ,fahren’“, schrieb der Tagesspiegel 1970. Das sei ein „geradezu dramatisches Kapitel“, weil der Verbrauch schneller abfalle, als die Erzeugung gedrosselt werden könne, so dass für den Überschuss Speicherraum zur Verfügung stehen müsse. „In jedem Jahr hat die Belegschaft ein Meisterstück zu vollbringen.“

Die Verbrauchsspitze an Weihnachten ist heute weniger spitz

Das war einmal. „Eine Gänsebratenspitze lässt sich heutzutage für den Gasbereich nicht mehr ermitteln“, sagt Gasag-Sprecher Rainer Knauber. Heute gebe es weniger Kochgasstellen. Zudem sei die Gasabgabe extrem stark von den Außentemperaturen abhängig, „so dass eine möglicherweise vorhandene Gänsebratenspitze mengenmäßig nicht sauber erfasst werden kann“. Heute ist diese Verbrauchsspitze ein Thema für Stromversorger, allerdings eines aus dem  Kapitel der Kuriositäten. So heißt es im Online-Glossar eines großen Tarifvergleichportals: „Gänsebratenspitze“ sei „eine scherzhafte Bezeichnung für den starken Anstieg des Stromverbrauchs, der regelmäßig in den Vormittagsstunden des 25. Dezembers zu beobachten ist“.

Nach Angaben des BDEW, des Dachverbandes der Energiewirtschaft, verbrauchen Deutschlands Privathaushalte am ersten Weihnachtstag zusammen rund 480 Millionen Kilowattstunden – etwa ein Viertel mehr als an einem durchschnittlichen Wintertag. Ein größerer Durchschnittshaushalt (3500 Kilowattstunden Verbrauch im Jahr) kommt auf etwa zwölf Kilowattstunden, das wären 3,12 Euro Stromkosten für den 25.12. Zur veränderten Spitzenlast hat der Verband keine echte Meinung mehr. „Seit einigen Jahren begleiten wir die Gänsebratenspitze nicht mehr kommunikativ“, teilt ein Sprecher mit. Also wirklich nur noch ein Mythos?

Berliner Haushalte verbrauchen Weihnachten zehn Prozent mehr Strom

Beim Stromnetzbetreiber Vattenfall sieht man das differenzierter. Der Versorger hat auf Bitte des Tagesspiegels die Verbrauchsdaten für die Weihnachtsfeiertage des vergangenen Jahres 2012 herausgesucht und dazu – zum Vergleich – die Daten für ein normales Winterwochenende, in dem Fall die vom 1. und 2. Dezember. Und tatsächlich lassen sich daraus einige Besonderheiten ablesen und Rückschlüsse auf das spezifische Weihnachtsverhalten der Berliner ziehen.

Die Daten beziehen sich auf das Verteilungsnetz mit 400 Volt Spannung, an dem praktisch alle Haushalte und Gewerbetreibende angeschlossen sind, aber keine sehr großen Stromverbraucher wie etwa Fabriken. Die sind mitunter direkt am Mittelspannungsnetz angeschlossen. Unterm Strich stellt man fest, dass zumindest Berlins Haushalte und Geschäfte an Weihnachten gut zehn Prozent weniger Strom brauchen als an einem normalen Winterwochenende – das ist ein Indiz dafür, dass sich in Berlin tatsächlich weniger Menschen aufhalten. Viele Zugezogene fahren zum Fest zu ihren Familien. Eine weitere Vermutung der Fachleute: Es sitzen an Heiligabend buchstäblich mehr Menschen unter einer Lampe als an einem gewöhnlichen Tag. Eine weitere Besonderheit: An Heiligabend wird insgesamt etwas mehr Strom verbraucht als am ersten Feiertag. Das mag zunächst nicht überraschen, da am 24. Dezember die Geschäfte immerhin halbtags geöffnet sind. Allerdings war das auch früher schon so, aber damals lag der Verbrauch am 1. Feiertag höher. Das könnte darauf hindeuten, dass die Berliner mittlerweile auch an Heiligabend warm kochen, nicht mehr „nur“ kalten Kartoffelsalat und Würstchen reichen. So oder so liegt der höchste Verbrauch heute wie damals am 24. und 25. Dezember mittags – nicht am Abend, wie an normalen Wochenendtagen. Es gibt sie also noch, die Gänsebratenspitze, allerdings eher als sanft ansteigende Beule, die die Stromnetzbetreiber nicht mehr vor große Herausforderungen stellt.

Stromnetzingenieure kennen übrigens auch ein Phänomen, das man als „Kirchgangssenke“ bezeichnen könnte: Da fällt die Verbrauchskurve an Heiligabend steiler ab als an einem normalen Samstagabend. Das gilt vor allem für ländliche Kommunen und Süddeutschland generell. In Berlin ist das anders: Hier fällt die Kurve flacher ab als normal. Berliner sind an Heiligabend im Schnitt also womöglich länger wach als sonst – aber nicht in der Kirche.

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