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Martin Luther

© Michael Huisgen (SI EKD)

Ethik: Arbeit als Liebe

Zum Reformationstag: Es gibt eine protestantische Utopie des Berufs und der Arbeitsmoral. Das katholische Rom ist beim „11. Gebot“ – Sei produktiv! – etwas zurückhaltender.

Am Morgen nach dem Hannöverschen Altstadtfest brachte ein NDR-Sender ein Interview mit einem der Müllmänner, die dabei waren, den ganzen Dreck wegzumachen. „Wie finden Sie das eigentlich: Die werfen da alles hin und Sie müssen das wegmachen?“ Die erste spontane Antwort des Mannes klang noch etwas resignierend, sehr nüchtern: „Einer muss das ja machen!“ Aber dann sagt er auch noch – schon viel fröhlicher: „Und außerdem haben wir tolle neue Kehrmaschinen. Damit macht das richtig Spaß!“

Arbeit als großes Gemeinschaftswerk

So funktioniert unsere Arbeit: Die einen müssen sie für die anderen machen. Damit die einen feiern können, müssen die anderen ran. Das ist ganz gewiss nicht immer nur lustig. Aber wenn die Arbeitsbedingungen so sind, dass es auch noch Spaß macht, dann kann es sogar Begeisterung erzeugen. In diesen Aussagen des hannoverschen Müllmanns kommt für mich etwas von der klassischen protestantischen Vision der Arbeit zum Ausdruck: Es ist der Bereich unseres aktiven Lebens, in dem wir arbeitsteilig zum Wohle von uns allen, von unseren Nächsten tätig sind. Unsere Arbeit ist so gesehen ein großes Gemeinschaftswerk, mit dem den jetzt Lebenden und auch den zukünftigen Generationen ein gutes Leben ermöglicht werden soll. Jede Arbeit hat auf diese Weise etwas Schöpferisches. Auch die, die ungerechtfertigterweise schlecht bezahlt wird.

Deswegen gilt Arbeit seit Martin Luthers Zeiten als etwas Besonderes: Mit ihr hat der Mensch Teilhabe an der Schöpferkraft Gottes. Gerade auch der Müllmann. Arbeit ist in dieser Sichtweise wirksame, sichtbare Nächstenliebe. Der Müllmann macht seine Arbeit nicht nur einfach so. Er hat nämlich einen Beruf. Seit 2002 gibt es staatlich anerkannt die „Fachkraft für Kreislauf- und Abfallwirtschaft“. Nicht nur um simple Dreckbeseitigung geht es mithin, sondern um die Gestaltung von Stoffkreisläufen, um Nachhaltigkeit! Ein Beruf für das Gemeinwohl! Das war die besondere Entdeckung Martin Luthers: Es geht nicht darum, dass alle Menschen „irgendwie“ arbeiten – und sei es womöglich gar unter schlechten Bedingungen –, sondern um sinnvolle, weil letztlich von Gott beauftragte Arbeit. Einen Beruf zu haben, bedeutet folglich, meine Fähigkeiten einzusetzen und mich so selbst zu verwirklichen. Aber Selbstverwirklichung in diesem Sinne ist das genaue Gegenteil von Egoismus und Rücksichtslosigkeit: Sie ist – christlich gesprochen – Entfaltung der Gaben, die ich selbst empfangen und ausgebildet habe.

Beruf als Teil der Persönlichkeit

Ein Beruf ist mehr als ein Job; er ist Teil meiner Person. Deswegen will ich all das, was ich zu tun habe, so gut machen, dass mein Werk verantwortbar ist. Daran kann mich letztlich kein Arbeitgeber – und sei es ein großer deutscher Autokonzern – hindern. Auch wenn meine Arbeit natürlich dazu dient, Geld zu verdienen, hat meine Arbeit ihren Wert nicht in ihrem oft zufälligen Preis sondern in ihrer nachhaltigen Qualität. Sie muss ich selbst verantworten.

Der neue Text der Evangelischen Kirche: „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt. Eine Denkschrift des Rates der EKD zu Arbeit, Sozialpartnerschaft und Gewerkschaften“ (2015) formuliert prägnant: „In biblischer Perspektive ist das Zielbild eine Gesellschaft ohne unterwürfiges Ducken und Streben, ohne Demütigung in entwürdigender Unterordnung.“ Das entscheidende Kriterium ist, ob und wie Selbstbestimmung und Solidarität in der Arbeit ausgebildet und entwickelt werden. „Damit sich der Einzelne dabei so entfalten kann, dass er frei und solidarisch handelt (...), braucht es stets auch ein angemessenes Maß an Sicherheit“. Ohne sie „sind Freiheit und Kooperationsbereitschaft der Beschäftigten gefährdet“, heißt es dort.

Auch die katholische Kirche schätzt die Arbeit hoch ein; sie hat als Ausdruck der Personalität des Menschen den Vorrang vor dem Kapital und muss gerecht gestaltet werden. Etwas zurückhaltender ist Rom im Blick auf ein „11. Gebot“: „Sei produktiv!“ Was auch die Protestanten wissen, dass der Mensch letztlich nicht aus der Arbeit lebt und in ihr nicht den Sinn seines Lebens erfährt, sondern ihn nur realisiert, kommt stärker zum Tragen. Auch deswegen gibt es beneidenswerterweise mehr Feiertage in katholischen als in evangelischen Regionen.

Ökonomie als Teilgebiet der Ethik

Grundsätzlich kann es in der christlichen Sichtweise mithin keinen tiefer gehenden Gegensatz zwischen Wirtschaft und Gemeinwohl geben. Sie ist nichts weiter als das Instrument, die Wohlfahrt für alle bei möglichst schonender Nutzung der Ressourcen zu sichern. Im neuen gemeinsamen Wort von evangelischer und katholischer Kirche für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ (2014) heißt es deswegen: „Wir halten die Trennung von Ökonomie und Moral für falsch und für fatal. (...) Die Ökonomie war immer ein Teilgebiet der Ethik (…) Ihren moralischen Anspruch hat sie (…) nicht aufgegeben, sondern ihr erklärtes Ziel blieb es, die wirtschaftlichen Grundlagen für den Wohlstand der Völker“ zu schaffen. „Die Aufgabe der Wirtschaft sollte es sein, in bestmöglicher Weise die materiellen Grundlagen für ein gutes, selbstbestimmtes Leben aller zur Verfügung zu stellen.“

So wie das die Müllmänner in Hannover längst tun, indem sie die Straßen und Plätze für die nächste Party aufräumen. Einige der großen deutschen Wirtschaftsakteure haben damit allerdings zurzeit große Probleme.

Gerhard Wegner ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD in Hannover. Der Professor befasst sich mit Sozialethik, Religionssoziologie, Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Gerhard Wegner

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