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Wirtschaft: EU-Osterweiterung: Die Kluft zwischen West und Ost wächst

Nach wie vor hat die EU-Osterweiterung in den Mitgliedsstaaten der Union politische Priorität. Bis 2002, das zumindest hat EU-Erweiterungskommissar Günther Verheugen wiederholt bekräftigt, will die Union ihre eigenen Reformarbeiten erledigt haben und erweiterungsfähig sein.

Nach wie vor hat die EU-Osterweiterung in den Mitgliedsstaaten der Union politische Priorität. Bis 2002, das zumindest hat EU-Erweiterungskommissar Günther Verheugen wiederholt bekräftigt, will die Union ihre eigenen Reformarbeiten erledigt haben und erweiterungsfähig sein. Erste Beitritte kann es dann aber frühestens 2004 oder 2005 geben. Denn allein für die Ratifizierung des neuen EU-Vertrages müssen zwei Jahre veranschlagt werden. Insofern liegt Bundesaussenminister Joschka Fischer mit seinen Zeitvorstellungen genau im Plan.

Finanzieller Kraftakt

Wann die Erweiterung tatsächlich vollbracht ist, steht auf einem anderen Blatt. Die Aktion stellt einen beispiellosen wirtschaftlichen und finanziellen Kraftakt dar. Das Gefälle zwischen EU-Staaten und den Kandidatenländern ist ungleich größer als es jemals bei einer Erweiterung in früherer Zeit der Fall war; der Anpassungsbedarf entsprechend hoch. Angesichts dessen sind die geplanten EU-Mittel für Beitrittshilfen von insgesamt knapp 80 Milliarden Euro bis 2006 bei einem Finanzrahmen von 686 Milliarden Euro relativ bescheiden (Vgl. Interview ).

Im Vergleich zur neuen Beitrittsrunde war alles Bisherige ein Kinderspiel. Als die südeuropäischen Länder Portugal, Spanien und Griechenland Anfang der 80er Jahre in die Gemeinschaft aufgenommen wurden, konnten sie auf eine Wirtschaftskraft verweisen, die über 60 Prozent des EU-weiten Durchschnitts erreichte. Die ost- und mitteleuropäischen Anwärter hingegen kommmen auf weit weniger. Das Pro-Kopf-Einkommen Bulgariens zum Beispiel liegt gerade mal bei 22 Prozent des EU-Durchschnitts, das Estlands bei 36 Prozent. Die Ungarn kommen immerhin auf 51 Prozent (Vgl. Tabelle ). Insgesamt erwirtschaften alle 13 Anwärterstaaten ein rundes Drittel des Bruttoinlandproduktes aller 15 EU-Länder. Bis eine Angleichung der Lebensverhältnisse erreicht ist, dürften nach Expertenschätzung 30 bis 40 Jahre vergehen.

Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer ist der Reformbedarf der mittel- und osteuropäischen Transformationsländer ungebrochen. Doch nicht überall ist auch die politische Kraft vorhanden, die Reformen in praktische Politik umzusetzen. Der Rückhalt in der Bevölkerung für einen raschen Beitritt zur Union schwindet. Immer mehr Menschen im Osten realisieren, dass der Beitritt nicht zum Nulltarif zu haben ist. Umstrukturierungen wie in der Schwerindustrie werden viele Arbeitsplätze kosten. Dabei verliert das Wachstumstempo an Schwung. Zum ersten Mal seit 1994, ermittelte Eurostat, das Statistische Amt der Europäer in Luxemburg, liegen die durchschnittlichen Wachstumsraten der Beitrittskandidaten wieder unter denen der EU-Mitgliedsstaaten. Das hat unmittelbare Folgen auf den Wanderungsdruck: Je schleppender die heimische Wirtschaft vorankommt, desto mehr Arbeitskräfte versuchen ihr Glück in reicheren Nachbarstaaten.

Nach einer Studie der EU-Kommission werden durch die Erweiterung Jahr für Jahr rund 350 000 zusätzliche Arbeitskräfte auf die Arbeitsmärkte der alten EU-Staaten drängen; vorzugsweise nach Deutschland und Österreich. Allein in Deutschland, so die Prognose, würden Osteuropäer innerhalb von 30 Jahren rund 3,5 Prozent der Bevölkerung ausmachen. "Unerwünschte regionale Auswirkungungen" wollen die Fachleute nicht ausschließen.

Ungeachtet dessen, dass vor allem Deutschland von den erwarteten Wachstums- und Beschäftigungsimpulsen der EU-Osterweiterung profitieren kann, wächst hier zu Lande die Angst vor unwillkommener Billigkonkurrenz. Die Skepsis wird offen gezeigt. Nicht ohne Grund erwägt Brüssel bereits, die volle Freizügigkeit erst nach einer mehrjährigen Übergangsfrist zu gewährleisten. Den Kandidaten aber über einen längeren Zeitraum eine der Grundfreiheiten des Binnenmarktes zu verwehren, liefe auf eine zweitklassige Mitgliedschaft der mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer hinaus.

Aber nicht nur die Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt verunsichert die EU-Bevölkerung. Zweites heikles Thema der Osterweiterung ist die Landwirtschaft. Um die Bauernhöfe nur annähernd auf westlichen Standard zu bringen, müssten nach Schätzungen der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau allein in Polen zwölf Milliarden Euro aufgebracht werden. Lediglich ein Fünftel der polnischen Höfe gelten zurzeit als wettbewerbsfähig. Rund 20 Prozent der Bevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft und trägt lediglich knapp fünf Prozent zum Bruttoinlandprodukt bei. EU-weit ist die Produktivität ungleich höher. Hier erarbeiten fünf Prozent der Bevölkerng gut zwei Prozent der allgemeinen Wirtschaftskraft.

Noch hoffen die Bauern, und das nicht nur in Polen, möglichst rasch in den Genuss der Direktbeihilfen für Landwirte zu kommen, wie sie im Westen seit der Agrarrefrom 1992 gewährt werden. Würden nun nur die Kandidaten der ersten Erweiterungsrunde - also Polen, Ungarn, Tschechien, Estland, Slowenien und Zypern - miteinbezogen, müsste die Union Jahr für Jahr zwölf Milliarden Euro zahlen. Das Geld aber ist nicht eingeplant. Um den engen Finanzrahmen der Agenda 2000 erfüllen zu können, wurden konsequenterweise auch keine zusätzlichen Direktbeihilfen für die Bauern im Osten vorgesehen. Der Konflikt war mithin programmiert. Jetzt blockiert das Tauziehen um die Finanzen die Beitrittsverhandlungen.

Das Interesse schwindet

Zu der Angst vor einer überteuerten Erweiterung und der Angst vor Arbeitsplatzverlust im Westen gesellt sich im Osten das schwindende Interesse an einem raschen Beitritt. Seit der Erweiterung der Nato spielen politische Ängste beispielsweise in Polen kaum mehr eine Rolle. Heute befürwortet nur noch eine knappe Mehrheit der Polen einen EU-Beitritt.

Eine großzügigere Zeitplanung für die Erweiterung brächte nach Auffassung von Wolfgang Quaisser vom Osteuropa-Institut in München alten wie neuen EU-Mitgliedern zusätzlichen Gestaltungsspielraum. In einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung zur Osterweiterung erklärt der Osteuropa-Fachmann: Die Kandidatenländer hätten mehr Zeit zur Anpassung, die EU-Staaten könnten ihr Budget schonen. Würde die erste Stufe der Erweiterung nicht schon 2002, wie in der mittelfristigen Finanzplanung Brüssels hypothetisch unterstellt wird, sondern erst 2005 über die Bühne gehen, ließen sich rund acht Milliarden Euro sparen; selbst wenn, dann acht und nicht - wie bislang angenommen - fünf Kandidaten in die Union aufgenommen würden. Eine Idee, der sich auch das Team Osteuropa der DB Research anschließen kann, das derzeit an einem Monitoring der EU-Kandidatenländer arbeitet. Mit diesen Geldern könnten dann die Vorbereitungshilfen aufgestockt und die technische sowie institutionelle Zusammenarbeit verstärkt werden. Der Akzeptanz des Projektes Osterweiterung käme das sicher entgegen. Noch mehr könnte theoretisch erreicht werden, wenn man einer neuen Verteilungsdebatte vorgreifen und sich zu neuen Spargesetzen zu Gunsten der Erweiterung durchringen würde.

Martina Ohm

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