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Michal Hvorecky, 40, lebt in der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Zuletzt erschienen: „Das allerschlimmste Verbrechen in Wilsonstadt“ (Klett-Cotta).

© Tomas Halasz

Europa - mein scHmERZ: Aus Selbsthass wird Hass auf die anderen

Sie werden verprügelt, angepöbelt, eingesperrt: Warum hassen uns so viele Einheimische, fragen Geflüchtete den slowakischen Schriftsteller Michal Hvorecký bei einer Tischrunde in seiner Heimat.

Kurz vor Weihnachten habe ich einige geflüchtete Frauen und Männer getroffen, die sich in der Slowakei aufhalten. Ich kenne schon ganz schön viele, es geht ja auch schnell. In Deutschland wäre das eine Goliath-Aufgabe, in meiner Heimat schafft es auch ein David. 14 Ausländern gewährte die Slowakische Republik 2014 Asyl, im Jahr davor 15, nur fünf davon durften Staatsbürger werden.

Ein Slowake zu sein, ist inzwischen eine große Kunst. Mehr als 1200 meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger haben kürzlich ihr Recht auf einen slowakischen Pass verloren. Die Auflösung der Staatsbürgerschaft ist ein wichtiger ideologischer Bestandteil der aktuellen Regierungspolitik, die Roma und andere Minderheiten nicht als Teil der Nation akzeptiert und sie nicht mitbestimmen lässt.

Am Tisch mir gegenüber saß Khadra aus Mogadischu, der Hauptstadt Somalias, mit Hijab und einem breiten Lachen im Gesicht. Sechsmal wurde sie innerhalb eines Jahres in Bratislava angegriffen, gewürgt, verprügelt, mit Steinen beworfen. Kürzlich hat man sie am helllichten Tag auf der Straße von Petrzalka (zu Deutsch: Engerau) angepöbelt und ins Gesicht geschlagen. Sie verlor einen Zahn und einen Großteil ihrer Hoffnung auf einen friedlichen Neuanfang in der osteuropäischen Fremde. Ihr vierjähriger Sohn hat sich nach dem Angriff auf dem Gehsteig eingenässt; der traumatisierte Junge braucht psychologische Betreuung und wünscht sich eine andere Hautfarbe. Khadra hat jetzt Angst, in meiner Stadt öffentliche Verkehrsmitteln zu benutzen. Sie spart Geld für den Führerschein.

Die slowakische Regierung betrachtet Geflüchtete als Polizeiangelegenheit

Neben ihr sitzt Mahmud, er ist 18 und kommt aus Afghanistan. Als er es endlich über die slowakische Grenze geschafft hatte, wurde er verhaftet und ins Gefängnis von Medvedovo gesteckt, der Ort liegt siebzig Kilometer östlich von Bratislava. Es gab keinerlei Hinweise auf kriminelles Verhalten. Trotzdem musste Mahmud dort fast fünf Monate bleiben, er hat sich zu Tode gelangweilt. Die Gefängnisinsassen werden nicht beschäftigt, die Haft ist mit vielen Ängsten verbunden, es gibt kaum Privatsphäre. Augenzeugen sprechen von Schikane und Willkür.

In dem umstrittenen Gefängnis, das die Migrationsbehörde „Lager“ nennt, kam es zu einem brutalen Polizeieinsatz, der außer Kontrolle geriet. Sowohl Ombudsfrau Jana Dubovcová als auch die Liga für Menschenrechte sowie mehrere unabhängige Medien übten scharfe Kritik – worauf alle entlassen wurden, die sich beschwert hatten: Verletzte, Flüchtlinge, also die Augenzeugen. Sie durften sich auf den ersehnten Weg Richtung Westen machen. Die slowakische Regierung betrachtet diejenigen, die gesellschaftlich unten stehen, vor allem Roma und Geflüchtete, als rein polizeiliche Angelegenheit. Kein Wunder, dass die Repression immer stärker wird.

Die Armut ist groß, der Alltag trostlos

Auch Badoul aus dem syrischen Aleppo musste monatelang in Medvedovo bleiben. Als einzige Frau dort wurde sie wochenlang isoliert, durfte keine Frauenkleidung tragen, saß eingesperrt da in Männerkleidung samt Männerunterhosen. Die Wächter wollten ihr auch den Hijab abnehmen, doch sie weigerte sich. Der Krieg hat ihre Heimatstadt zerstört und ihr alles genommen. Auch die Sprache. Sie kann nicht über ihr Leiden sprechen.

Auch in Bratislava ist ihre Armut groß, ihr Alltag trostlos. Doch sie gibt die Hoffnung nicht auf, lernt Slowakisch, jobt als Saisonarbeiterin, entdeckt nach und nach das unbekannte Land. Auf dem langen Weg in die Zukunft helfen ihr Freiwillige.

Auch ich berate geflüchtete Frauen und Männer, erkläre ihnen die Slowakei, ermutige sie, helfe bei banalen Alltagsproblemen. Ihre schwierigste Frage: Warum hassen uns so viele Einheimische?

Die slowakische Bevölkerung ist enttäuscht von der Demokratie

Die slowakische Bevölkerung, vor allem auf dem Land, ist zwar nicht so fremdenfeindlich, wie man in Deutschland oft annimmt, aber tief enttäuscht von 25 Jahren Demokratie. Anstelle einer offenen Gesellschaft ist eine autoritäre Ordnung entstanden, voller Armut, ohne Zusammenhalt. Der wütende Rassismus erklärt sich auch aus dem Mangel an Nationalbewusstsein. Nach der Teilung der Tschechoslowakei 1993 wurden nicht nur viele Betriebe an die Oligarchen verkauft, sondern auch viele Ideale.

Der junge Staat stand vor gewaltigen Herausforderungen. Vom liberalen Kapitalismus erhoffte man sich viel zu viel. Die Verlierer dieser Transformation hassen die Demokratie und den Parlamentarismus. Sie glauben, dass jede Macht korrupt ist, und lehnen die bürgerliche Partizipation ab. Die verarmte Bevölkerung leidet unter einem Selbsthass, der in Hass auf die anderen umschlägt.

Nach zehn Jahren Kollaboration mit den Nazis, die nie richtig aufgearbeitet wurde, nach 40 Jahren Kommunismus kam mit der Sanften Revolution überraschend wenig Freiheit ins Land. Dafür Arbeitslosigkeit, Machtmissbrauch und Trash-TV. Die Gewerkschaften sind schwach oder existieren nicht mehr. Erste Welt im Westen, Dritte Welt im Osten, nur drei Stunden Autofahrt voneinander entfernt.

Es herrscht Hass auf die Hochkultur

Die Regierung nutzt die Enttäuschung geschickt aus. Ein starker Staat steht einer schwachen Gesellschaft gegenüber. Ins Parlament schafft es fast nur, wer vehement rechts, national und antieuropäisch ist. Die Moderne wird als fremd und volksfeindlich eingestuft, die konventionelle patriotische Kultur zum Ideal stilisiert. In einer politischen Landschaft, in der auch die Sozialdemokratie unglaublich rechts ist, herrscht Hass auf die Hochkultur, auf die unabhängigen Journalisten und die gesamte liberale Intelligenz.

Die desillusionierte Slowakei sucht eine neue Identität. Mehr als 250 000 Wirtschaftsflüchtlinge sind nach England, Deutschland oder Österreich ausgewandert, mobile Arbeitskräfte, die ihren Jobs quer über den Kontinent hinterherreisen. Um die wahren Grunde der Emigration zu vertuschen, sucht die Regierung immer neue Feinde: Roma, Schwule und Lesben, Brüssel, George Soros, Nichtregierungsorganisationen. Und Geflüchtete, selbst wenn es nur wenige sind.

Khadra, Badoul und Mahmud träumten von der Slowakei als einer Welt, die zivilisierter, edler, besonnener ist als ihre oft brutale, zerstörte verlorene Heimat. So wie wir als Kinder in der Tschechoslowakei von den USA oder der Bundesrepublik träumten. Aber wenn sich die Regierenden nicht an den einigenden Geist der Aufklärung halten, ist eine Erneuerung gemeinsamer Werte nur noch von unten möglich. Ein freies und gerechtes Europa, dazu kann jeder beitragen, der ohne Angst und Gewalt hier leben will.

Michal Hvorecký

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