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Industriekultur. Zum 15. Mal fand in diesem Jahr das Melt-Festival auf dem ehemaligen Braunkohletagebaugelände Ferropolis statt. Drei Tage lang lauschten dort 20 000 Menschen Bands und DJs.

© picture alliance / dpa

Festivals im Sommer: Musik für die Massen

Jeden Sommer finden in Deutschland hunderte Festivals statt, und sie ziehen immer mehr Besucher an. Das macht sie zu interessanten Werbeplätze für Unternehmen.

Die Bagger und Kräne auf dem ehemaligen Braunkohletagebaugelände Ferropolis in Sachsen-Anhalt sind in blaues Licht getaucht, darunter glitzern riesige Diskokugeln. Tausende Besucher des Melt-Festivals haben sich in dieser Sommernacht versammelt, um die britische Band Bloc Party zu hören. Als die Musiker auf die abgedunkelte Hauptbühne treten, gehen tausende Hände in die Höhe. „Come on, Melt-Fest, let’s get this party started“, ruft Sänger Kele Okereke und erntet tosenden Jubel. Vom strömenden Regen kurz nach Beginn des Konzerts lassen sich die Besucher nicht abschrecken, sie tanzen in Gummistiefeln und unter Regenschirmen weiter, bis sie gegen Morgen müde Richtung Zeltplatz pilgern.

20 000 Menschen, davon mehr als ein Drittel aus dem Ausland, kamen in diesem Jahr im Juli zum Melt-Festival nach Gräfenhainichen bei Dessau, um drei Tage lang Musik von 130 Bands und DJs zu hören. Dabei ist das Melt noch eines der kleineren Festivals, die von Mai bis September jeden Sommer in Deutschland veranstaltet werden. „Rock am Ring“ und „Rock im Park“ zählten mit zuletzt 86 000 beziehungsweise 76 000 Besuchern zu den größten, Hurricane und Southside lockten 73 000 beziehungsweise 55 000 Gäste, zum Metalfestival Wacken kamen im vergangenen Jahr 86 000 Menschen.

Trotz dieser hohen Besucherzahlen wächst der Markt. „Heute gibt es geschätzt doppelt so viele Festivals in Europa wie noch zu Beginn der 90er Jahre“, sagt Stefan Lehmkuhl, künstlerischer Leiter des Melt-Festivals. Der Festival-Guide, der Veranstaltungskalender der Musikzeitschrift Intro, listet 265 Musikfestivals, geschätzt gibt es allein in Deutschland bis zu 1000. „Viele erhöhen jedes Jahr die Zahl der Tickets und sind dennoch ausverkauft“, sagt Festival-Guide-Chef Carsten Schumacher.

Festivals sind ein lukratives Geschäft.

Rock auf der Insel: 40 000 Menschen kommen zum Sziget-Festival nach Budapest, um Bands wie Mando Diao zu hören.
Rock auf der Insel: 40 000 Menschen kommen zum Sziget-Festival nach Budapest, um Bands wie Mando Diao zu hören.

© dpa

341 Millionen Euro setzte die Veranstaltungsbranche 2011 mit Musikfestivals um, das sind 35 Prozent mehr als noch vor zwei Jahren. Damit machen sie heute 12 Prozent der Gesamtumsätze der Veranstaltungsbranche aus, wie Marktforscher für den Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft (BDV) errechnet haben.

„Der Trend geht weg vom CD-Kauf, hin zur Veranstaltung“, sagt BDV-Präsident Jens Michow. „Es hat eine regelrechte Verschiebung gegeben.“ Mitte der 90er machten CD- und Plattenverkäufe noch mehr als 50 Prozent der Umsätze der Musikindustrie aus, heute sind es gerade noch 30. Das bestätigt auch Schumacher: „Der Trend zum Festival ist parallel zum Niedergang der Plattenindustrie Ende der 90er entstanden“, sagt er. Heute, wo man sich das Lebenswerk eines Künstlers in Minuten auf die Festplatte ziehen könne, gewinne das Event, das Konzert immer mehr an Bedeutung. „Das Erlebnis, eine Band auf einem Festival zu sehen, das kann man nicht runterladen“, sagt er.

So sind die Großveranstaltungen im Sommer mittlerweile ein fester Bestandteil des Band-Terminkalenders geworden. „Früher gab es eine Art Sommerpause bei Konzerten, sagt Michow. „Heute gibt es zwölf Monate Eventprogramm.“ Musiker können die Festivals nutzen, um ihre neue CD vorzustellen, als Vorgeschmack auf ihre Tour. „Für Künstler ist es zudem eine Chance, um neue Fans hinzuzugewinnen“, sagt Carsten Schumacher.

Für viele Besucher ist ein Festival aber mehr als nur Musik. „Es ist ein Freiheitserlebnis, und auch eine Grenzerfahrung, gerade für die Jüngeren“, sagt Schumacher. In den Tagen während des Festivals schläft und isst man wenig, ist dem Wetter ausgesetzt, bekommt eine Vielzahl neuer Eindrücke. Die Großveranstaltungen passen zudem zum gesellschaftlichen Trend: „Wir leben in einer Gegenwartsgesellschaft, in der traditionelle Wertestrukturen wie etwa die Religion immer mehr an Bedeutung verlieren“, erklärt Babette Kirchner, die am Lehrstuhl für Soziologie der TU Dortmund forscht, und ein Buch über das Fusion-Festival geschrieben hat. „Festivals bieten den Menschen für ein paar Tage eine soziale Heimat“, sagt sie. So werde ein Gemeinschaftsgefühl hergestellt, das man früher in Parteien, Sportvereinen oder Jugendorganisationen erlebt habe. „Auf Events wie Festivals finden wir Zugehörigkeit, ohne dass wir uns dafür langfristig binden müssen, wie etwa bei einer Partei.“ Die traditionellen Organisationen, die mit Mitgliederschwund kämpfen, setzten daher ebenfalls auf Events, wie etwa der Weltjugendtag zeige. Dass Festivals besonders junge Menschen ansprechen, bestätigt auch die Studie des BDV. Den größten Zuspruch finden sie in der Altersgruppe zwischen 20 und 29 Jahren.

Für Unternehmen ist das die wichtigste Zielgruppe, weil sie jung und zugleich kaufkräftig ist. Daher investieren Markenhersteller viel Geld in Sponsoring, die Festivals sind mit Werbung und Marketingständen überzogen. Vor etwa zehn Jahren begann die große Sponsoringwelle. „Mit dem Aufkommen der alkoholischen Mixgetränke hat es einen Schub gegeben“, sagt Melt-Booker Lehmkuhl. „Die Unternehmen wissen, dass sie mit dem Sponsoring von Events ihre Marke positiv aufladen können, dass die Leute sie dann mit schönen Erlebnissen, Spaß oder Coolness verbinden“, sagt Babette Kirchner.

Für die Veranstalter ist das Geld der Unternehmen wichtig. Beim Melt-Festival, bei dem Sponsoring etwa ein Viertel des Budgets ausmacht, sind es besonders Bekleidungsmarken wie Converse oder Bench oder Getränkehersteller wie Carlsberg, die großflächig werben und Sonderaktionen anbieten. Das Ticket kostete in diesem Jahr 110 Euro.

Die Ticketpreise steigen immer weiter

Musik und Lebensgefühl. Auf dem Festival Party.San in Thüringen treffen sich Metal-Fans. Mit 10000 Besuchern ist die Veranstaltung deutlich kleiner als etwa das Wacken Open Air.
Musik und Lebensgefühl. Auf dem Festival Party.San in Thüringen treffen sich Metal-Fans. Mit 10000 Besuchern ist die Veranstaltung deutlich kleiner als etwa das Wacken Open Air.

© dapd

„Wenn wir auf die Werbung und das Sponsoring verzichten würden, wären die Ticketpreise bis zu 30 Prozent höher“, sagt Lehmkuhl. Denn die Veranstalter sind mit steigenden Forderungen der Bands konfrontiert. „Die Künstlergagen sind in den letzten Jahren mit dem Wegbrechen der Plattenverkäufe massiv gestiegen“, sagt Lehmkuhl. Auch die Sicherheitsanforderungen sind seit dem Unglück auf der Loveparade 2010, bei dem 19 Menschen starben, gestiegen.

Für die Besucher bedeutet das steigende Ticketpreise. Der BDV hat errechnet, dass die Durchschnittspreise für Musikfestivals im Vergleich zu 2009 um 45 Prozent angezogen haben. Allerdings sind in Festivaltickets auch immer Campinggebühren enthalten. Besonders gut lässt sich die Entwicklung beim Metal-Festival Wacken Open Air beobachten. 2002 kostete ein Ticket 50 Euro, 2011 waren es 120 Euro. Auch die Zahl der Bands, die auftreten, stieg von 80 auf 125. Und trotzdem kommen jedes Jahr mehr Besucher. „Die Zahlungsbereitschaft für Festivals ist hoch. Das leistet man sich, wie ein teures Paar Turnschuhe“, sagt Schumacher.

Vor allem kleine Festivals wenden sich aber bewusst gegen die Kommerzialisierung und versuchen, ganz ohne Werbung und Sponsoring auszukommen. Ein Beispiel dafür, dass das auch im großen Maßstab funktionieren kann, ist das Fusion-Festival, das auf einem ehemaligen Militärflugplatz in Lärz in Mecklenburg-Vorpommern stattfindet. Es wird von einem Kulturverein veranstaltet, viele Künstler spenden ihre Gagen, und wer will, kann Getränke und Speisen selbst mitbringen. Hunderte Ehrenamtliche helfen jedes Jahr bei Aufbau und Gestaltung des Geländes, zudem gibt es Kunst, Kulturveranstaltungen und Kino. 60 000 Besucher in diesem Jahr zeigen, dass auch das ankommt.

Was noch kommt: Festivals im August und September

Gemeinschaftsgefühl. Die Besucher kommen nicht nur wegen der Musik. Festivals bieten auch für kurze Zeit eine soziale Heimat, eine Verbindung mit Gleichgesinnten, sagen Soziologen.
Gemeinschaftsgefühl. Die Besucher kommen nicht nur wegen der Musik. Festivals bieten auch für kurze Zeit eine soziale Heimat, eine Verbindung mit Gleichgesinnten, sagen Soziologen.

© dpa

Das Wacken Open Air (2. bis 4. August) lockt mehr als 80 000 Metalfans nach Schleswig Holstein. Zehntausende Raver finden sich vom 3. bis 5. August auf der Nature One auf der ehemaligen Raketenbasis Pydna im Hunsrück ein. Für Indiefans bietet der Niederrhein mit dem Haldern Pop ein besonderes Festival (9. bis 11. August), das mit nur 7000 Besuchern seine Gemütlichkeit bewahrt. Für Freunde elektronischer Musik, die es ebenfalls kleiner mögen, gibt es das Nachtdigital (3. bis 5. August) in Cavertitz, das nur 3000 Besuchern vorbehalten ist, dafür aber Größen wie Henrik Schwarz und Erobique zu bieten hat. Für Feinde des Zeltens bieten sich Stadtfestivals an: Vom 10. bis 12. August spielen Bands und DJs beim MS Dockville auf einer Flussinsel in Hamburg- Wilhelmsburg. Am 7. und 8. September steigt am Flughafen Tempelhof mitten in der Hauptstadt das Berlin-Festival, auf dem neben Indiebands wie Franz Ferdinand auch DJs auflegen. Parallel findet in Clubs und auf zahlreichen Open-Air-Bühnen die Berlin Music Week statt. Auch ein Blick über die Grenzen lohnt: Auf der Donauinsel in Ungarns Hauptstadt Budapest lockt das Sziget (6. bis 13. August) mit 1000 DJs und Bands sowie Theater.

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