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Do widzenia!

© dapd

Wirtschaft: Fluchtgefahr

Polen fürchtet wegen der Freizügigkeit ab 1. Mai eine Auswanderungswelle wie 2004 nach Großbritannien

Ursula Berlinska schüttelt den Kopf. „Da stehen plötzlich zwei Omas in deinem Büro und wollen unbedingt in Deutschland arbeiten“, erzählt sie. Nur so ein bisschen, sie seien ja noch fit und würden sich gerne etwas zur Rente dazuverdienen. Die Angestellte der deutsch-polnischen Grenzgemeindevereinigung „Pomerania“ mit Sitz in Szczecin (Stettin) ist eine hilfsbereite Person. Aber in den letzten paar Monaten riss auch bei Ursula Berlinska gelegentlich der Geduldsfaden. Eigentlich sollte sie deutsche und polnische Unternehmen beiderseits der Grenze beraten, doch in den letzten Monaten wurde ihr Büro wider Willen zu einer Art Arbeitsvermittlungsstelle. „Seit Anfang Januar bekamen wir täglich mehrere Anrufe von polnischen Arbeitsuchenden. Manche stürmen gar direkt in unser Büro“, erzählt Berlinska.

Ab dem 1. Mai gilt für Polen und andere Bürger der 2004 aufgenommenen EU-Neumitglieder in Deutschland, Österreich und der Schweiz die volle Personenfreizügigkeit. Polen können ab heute überall arbeiten, Sondergenehmigungen brauchen sie keine mehr. Vor allem an der deutsch-polnischen Grenze stößt diese Neuregelung seit Anfang des Jahres auf reges Interesse. Die Arbeitslosigkeit ist dort mit 14 bis19 Prozent besonders hoch und die deutschen Löhne sind meist ein Vielfaches höher.

In und um die Stadt Stettin ist die Lage besonders, denn beiderseits der Grenze, in der polnischen Wojwodschaft Westpommern wie im deutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern, sind die Arbeitslosenzahlen fast gleich hoch.

Wer mobil sei und dazu noch Deutsch könne, sei schon lange Richtung Berlin abgewandert, heißt es in Stettin. „Bei mir rufen vor allem Polen an, die einen hilflosen Eindruck machen und fast kein Deutsch sprechen“, bestätigt Berlinska. Sie würde dennoch die meisten ans Arbeitsamt Pasewalk weiterverweisen. Sie selbst habe gar keine Angebote von deutschen Unternehmen erhalten.

Einer ihrer Kollegen, der ebenfalls in bilateralen Initiativen aktiv ist, berichtet allerdings, bei ihm hätte sich erst vor ein paar Tagen ein deutscher Campingplatzbesitzer aus Usedom gemeldet. „Kennst du keine Polen, die meine Campinghäuschen schrubben würden, ich finde dafür einfach keine Deutschen“, habe er geklagt. Auch Hausmeister würden in Usedom zur Sommersaison gesucht. Oft werden acht Euro Stundenlohn angeboten – drei- bis viermal mehr als in Polen.

Wilde Gerüchte machen derweil in Stettin die Runde. So heißt es etwa, die Asklepios Kliniken von Pasewalk und Schwedt würden Ausbildungslehrgänge für polnische Krankenpfleger mit einer dreijährigen Übernahmegarantie anbieten. „So ein Schwachsinn“, regt sich auf Nachfrage die Personalleiterin Anett Krakow auf. Doch in der südlichen Wojwodschaft Lubuskie (Lebuser Land) erfreuen sich Deutschkurse gerade unter Pflegepersonal großer Beliebtheit, berichtet dieser Tage die polnische Presse. In der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ berichtete eine Krankenschwester aus Luban, acht von 13 Stationskolleginnen würden seit Anfang des Jahres abends nach der Arbeit Deutsch büffeln. Statt 1500 Zloty im Monat verdient eine einfache Krankenschwester im benachbarten Brandenburg 1500 Euro – das ist viermal mehr. Und so warnen Experten in Warschau schon vor einem ähnlichen Szenario wie bei der letzten großen Auswanderungswelle ab 1. Mai 2004.

Zehntausende von Polen reisten damals mit Billigfliegern zur Arbeitssuche nach London und Dublin. Überdurchschnittlich viele sehr gut gebildete Polen verließen damals das Land und nur wenige kehrten nach Polen zurück. Wer einmal Westluft geschnuppert habe, wer einmal das Nachtleben einer englischen Stadt und das britische Sozialsystem kennengelernt habe, könne sich ein Leben in Polen kaum mehr vorstellen, erklären Soziologen und Demografen dieser Tage im polnischen Fernsehen. Neueste Untersuchungen haben gar zutage gefördert, dass Polinnen in Großbritannien weit mehr Kinder bekommen als in der Heimat – ja, dass sie mit je 2,48 Kindern sogar die dortigen Inderinnen übertreffen.

Das Auswanderungsszenario nach Großbritannien wird dieser Tage in Polen besonders heftig diskutiert. Damals hatte das Arbeits- und Sozialministerium die Polen beruhigt, dorthin würde es nur etwa 40000 polnische Arbeitsmigranten ziehen. Sieben Jahre später arbeiten dort mindestens 550 000 Polen. Dazu kommen weitere 140 000 alleine in Irland. Zehntausende sind weiter nach Italien, Frankreich, Holland und Skandinavien ausgewandert.

Für die nun anstehende volle Arbeitsmarktöffnung habe die polnische Regierung nach viel zu tiefen Prognosen von 2004 nun großzügig gerechnet, ist in Warschauer Diplomatenkreisen zu hören. Eine Expertenkommission des Ministerrates schätzt, dass in den kommenden vier Jahren noch einmal so viele Polen nach Deutschland auswandern würden, wie Ende 2009 bereits dort waren – nämlich rund 410 000. Die deutsch-polnische Handelskammer jedoch geht mit einer Neuzuwanderung von über einer halben Million Polen nach Deutschland aus.

Polens Presse fragt bereits bange: „Was passiert, wenn auch diesmal zehnmal mehr auswandern, als die Regierung prophezeit?“ Damals mussten bereits wenige Monate nach dem EU-Beitritt in Krankenhäusern Operationen mangels Personal abgesagt werden. Ein großer Facharbeitermangel trieb Löhne und Preise massiv in die Höhe. Deutsch sei jedoch viel schwieriger und weniger verbreitet als das Englische, wird heute bemerkt. „Mangelnde Deutschkenntnisse könnten diesmal die Auswanderungswelle stoppen“, hofft die Tageszeitung „Rzeczpospolita“.

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