zum Hauptinhalt
Statt Krankenhaus.

© David Heerde

Wirtschaft: Frauensache

Sie hat wohl schon 1000 Kindern auf die Welt geholfen. Anja Vallé hat aufgehört zu zählen. Was ihren Beruf als Hebamme ausmacht, wie man ihn erlernt – und was ihn erschwert.

Viele Zeit zum Wachwerden bleibt Anja Vallé nicht, wenn nachts um zwei ihr Telefon klingelt. Dann heißt es: So schnell wie möglich ab ins Geburtshaus. „Die meisten Babys kommen zwischen zwei und vier Uhr nachts“, sagt die Hebamme. Dann muss sie in wenigen Minuten wach und voll konzentriert sein.

Das war auch am Sonnabend vor zwei Wochen so, als eine Frau im Geburtshaus Maja am Arnimplatz in Prenzlauer Berg mit Anja Vallés Hilfe ihr zweites Kind zur Welt brachte. „Nach genau sieben Minuten war es da“, sagt die 37-Jährige und lacht. Am nächsten Morgen stattete Anja Vallé der jungen Familie einen ersten Hausbesuch ab.

24 Stunden auf Abruf, zu jeder Tages- und Nachtzeit einsatzbereit, immer unterwegs und verantwortlich für Mutter und Kind: „Der Beruf Hebamme ist nicht lieb und süß“, sagt Anja Vallé, „es ist ein Knochenjob.“ Wer glaube, hauptsächlich Babys zu pflegen, irre sich gewaltig. Stattdessen zähle fundiertes medizinisches Wissen, vor allem im Moment der Geburt. „Dann muss jeder Handgriff sitzen.“

Anja Vallé ist seit acht Jahren Hebamme und Ansprechpartnerin für Frauen rund um Schwangerschaft, Geburt und Nachsorge. Sie betreut, sie berät, gibt Tipps bei Beschwerden, führt Kurse zur Geburtsvorbereitung durch, übernimmt Vorsorgeuntersuchungen und überwacht Risikoschwangerschaften. Ist eine Geburt komplikationslos, führt die Hebamme sie durch. Muss ein Arzt übernehmen, assistiert sie. In den acht Wochen danach, manchmal bis zu einem Jahr oder mehr, besucht sie Mütter und ihre Neugeborenen, gibt Tipps zum Stillen, zur Rückbildung und zur Pflege des Säuglings.

Wer Anja Vallé im Geburtshaus besucht und mit ihr über ihren Beruf spricht, merkt, dass sie es ernst meint, wenn sie sagt: „Hebamme zu sein ist eine Berufung.“ Oft entstehe während der monatelangen Begleitung eine enge Beziehung. „Und der Moment, in dem ein Baby zur Welt kommt, ist so emotional, dass ich noch keine Worte dafür gefunden habe“, sagt die 37-Jährige. „Dabei sein zu dürfen, ist ein Geschenk.“ Wie vielen Babys sie schon auf die Welt geholfen hat? Sie zuckt die Achseln: „Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen. 1000 sind es aber bestimmt.“

Zunächst hatte Anja Vallé gar nicht vor, Geburtshelferin zu werden. Nach der Schule machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester, ging in die Schweiz und arbeitete in einem Züricher Krankenhaus. „Eher zufällig bin ich zum Infoabend für das Hebammen-Studium gegangen“, erzählt sie. Frauen in der Schwangerschaft und zur Geburt zu begleiten – diese Aufgaben habe sie plötzlich gereizt. Also schloss sie das Studium an, machte den Abschluss und suchte sich Arbeit als Hebamme. Zunächst war sie in verschiedenen Kliniken tätig. Seit gut drei Jahren arbeitet sie im Geburtshaus Maja.

Anders als in der Schweiz werden Hebammen in Deutschland an Hebammenschulen ausgebildet. In Berlin kann man den Beruf an der Charité und in den Vivanteskliniken erlernen. Beide Anbieter sind sehr stark nachgefragt. Bewerberinnen müssen oft jahrelang auf einen Ausbildungsplatz warten. Männliche Bewerber gibt es in der Regel keine, obwohl das durchaus möglich wäre. In ganz Deutschland arbeiten laut Hebammenverband nur „zwei bis drei“ männliche Geburtshelfer. Insgesamt gibt es etwa 18 000 Hebammen bundesweit, zirka 800 sind es in Berlin. Mehr als jede zweite (etwa 60 Prozent) arbeitet freiberuflich.

Auch in Deutschland sprechen sich immer mehr Experten dafür aus, die Ausbildung, wie in der Schweiz, zu akademisieren. Die Evangelische Hochschule Berlin bietet seit diesem Sommer einen Studiengang zur Geburtshelferin an. Mit dem Abschluss kann man direkt in den Beruf einsteigen. Der Deutsche Hebammenverband fordert sogar, die Ausbildung komplett an die Hochschulen zu verlagern.

In diesem Jahr hat Anja Vallé die Leitung des Geburtshauses übernommen. Nur noch wenige Schwangere kann sie nun selbst betreuen, auch für Geburtsvorbereitungskurse fehlt ihr momentan die Zeit. Aber ganz verzichten will sie nicht auf den eigentlichen Kern ihrer Arbeit: „Alle paar Monate brauche ich eine Geburt“, sagt sie. „Nicht nur wegen der Übung, sondern weil ich davon emotional zehre.“

Doch für immer weniger freiberufliche Hebammen lohnt sich die Geburtshilfe noch finanziell. Das liegt vor allem an der Berufshaftpflichtversicherung, die sie abschließen müssen, wenn sie als so genannte Beleghebammen in Kliniken, in Geburtshäusern oder bei Hausgeburten Kinder zur Welt bringen. 4242 Euro pro Jahr ist an Prämie zu zahlen (siehe Kasten). Für viele Hebammen bedeutet das: Ein großer Teil ihrer Einnahmen geht für die Versicherung drauf. Denn: Laut einer Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums aus dem Jahr 2012 erwirtschaften freiberufliche Hebammen, die Vollzeit arbeiten, pro Jahr im Schnitt einen Gewinn von nur 24 000 Euro vor Steuern. Als Beleghebamme bekommen sie pro Entbindung in der Klinik 280 Euro. Für eine Geburt im Geburtshaus zahlen die Kassen etwa 500 Euro. Mehr als 600 Euro gibt es für eine Hausgeburt. Wie viele Kinder eine Hebamme durchschnittlich pro Monat auf die Welt bringt, hängt von der Größe der Kliniken oder Geburtshäuser ab – und von ihrem persönlichen Arbeitsrhythmus.

Immer mehr Kolleginnen von Anja Vallé geben nun die Geburtshilfe auf und bieten nur noch Vorsorge oder Wochenbettbetreuung an. So wie Susanna Rinne-Wolf. „Ich habe schon bei der vorletzten Beitragserhöhung aufgegeben“, sagt die Vorsitzende des Berliner Hebammenverbandes. Bis 2010 war sie Beleghebamme am Auguste-Viktoria-Klinikum in Schöneberg. Heute betreut sie Frauen nur noch während der Schwangerschaft und im Wochenbett, außerdem arbeitet sie als Familienhebamme. „Die Geburten fehlen mir. Aber wirtschaftlich war es die vernünftigste Entscheidung“, sagt sie.

Susanna Rinne-Wolf und ihre Kolleginnen hoffen nun auf die Politik. Immerhin hat die neue Regierung im Koalitionsvertrag festgehalten, für eine angemessene Vergütung der Geburtshilfe sorgen zu wollen. Das haben die Hebammen auch Anke Bastrop zu verdanken. Die Schweriner Autorin und zweifache Mutter hat Anfang November eine Online-Petition für die Hebammen gestartet – und 133 796 Unterstützer mobilisiert. Die ersten 75 000 Unterschriften übergab die 31-Jährige persönlich an den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach.

„Hebammen leisten viel für die Gesundheit der ganzen Familie und fördern zudem die Eigenständigkeit der Frauen“, sagt Anke Bastrop. Das habe sie selbst als sehr stärkend für ihr Muttersein erlebt. Noch heute profitiere sie davon.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false