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Wirtschaft: Ganz schön im Druck

140 000 Lehrstellen fehlen: Die Regierung will dieses Problem lösen – notfalls mit Zwang

Von Bernd Hops

und Ursula Weidenfeld

In jedem Frühjahr dasselbe Ritual auf dem Lehrstellenmarkt: Politiker und Wirtschaft stellen fest, dass viele Plätze fehlen. Die Politiker gehen dann bei den Betrieben Klinken putzen, die Unternehmer geloben Besserung. In der Vergangenheit hat es meist geklappt. Doch in diesem Jahr ist die Lage viel schlimmer. Es werden 140 000 Ausbildungsplätze fehlen, wenn sich nichts ändert – bei etwa 600 000 Jugendlichen, die nach einer Lehrstelle suchen.

Die anhaltende Konjunkturkrise macht die Unternehmen vorsichtig. Wieso sollten sie Lehrlinge ausbilden, wenn sie nicht einmal wissen, ob sie an der Pleite vorbeikommen. Ein Lehrling kostet im Jahr durchschnittlich 17 000 Euro. Rolf Kurz, Präsident des Bundesverbands der Selbstständigen sagt, 80 Prozent aller Ausbildungsplätze seien bisher von kleinen und mittleren Betrieben angeboten worden. „Wenn der Mittelstand weniger ausbildet, dann nicht, weil er nicht will, sondern weil er schlicht nicht mehr kann“, sagt Kurz.

Die Situation am Lehrstellenmarkt ist „extrem angespannt“, sagte auch Nordrhein- Westfalens Wirtschaftsminister Harald Schartau (SPD) im Gespräch mit dem „Tagesspiegel am Sonntag“. Sein Land gehört zu denen mit den größten Rückgängen bei den Lehrstellen. Doch Schartau hält eine Besserung für möglich, wenn wieder alle an einem Strang ziehen. Deshalb ist er zufrieden mit dem Ausbildungsgipfel, der in dieser Woche in Berlin stattfand – mit Bildungsministerin Edelgard Bulmahn, Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (beide SPD), den Gewerkschaften und der Wirtschaft. Alle bekundeten ihre guten Absichten. Ganz konkret kündigte Bulmahn an, dass die „Ausbildereignungs-Verordnung“ für fünf Jahre außer Kraft gesetzt werden soll. Dadurch können mehr Betriebe leichter ausbilden. „Die Ergebnisse sind gut“, sagte Schartau. Hier werde der gleiche Weg eingeschlagen, wie ihn auch NRW verfolge.

Schartau lehnt eine Ausbildungsabgabe ab. Die war von den Gewerkschaften beim Ausbildungsgipfel erneut in die Diskussion gebracht worden. Die Gewerkschaften wollen, dass Betriebe, die nicht ausbilden, über die Abgabe andere Betriebe unterstützen, die es tun. Schartau sagte: „In NRW wollen wir den Beweis antreten, dass wir zusammen mit Arbeitgebern, Gewerkschaften und den Kammern neue Ausbildungsplätze schaffen können. Wir setzen auf Freiwilligkeit. Das ist wesentlich erfolgversprechender als eine Abgabe.“ Seit 1996 gebe es diesen – von Clement als NRW-Ministerpräsident gegründeten – Ausbildungskonsens in NRW.

Mehr als Appelle

Doch die Regierung will offenbar einen anderen Weg einschlagen. Bundeskanzler Gerhard Schröder habe Bildungsministerin Bulmahn beauftragt, die Modalitäten einer Ausbildungsplatzabgabe zu erarbeiten, berichtet der „Spiegel“. Die Bundesregierung erwarte zunächst aber, dass die Appelle an die Unternehmer und die kürzlich gestartete Ausbildungsoffensive fruchten, sagte ein Sprecher des Bildungsministeriums. Sollten bis Jahresende noch viele Jugendliche ohne Ausbildungsstelle sein, „dann drohen Maßnahmen wie eine Ausbildungsplatzabgabe oder andere rechtliche Mittel“.

Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt werde für alle Beteiligten in absehbarer Zeit aber noch kritischer, sagt Arbeitsmarktexperte Peter Kupka vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Denn fast unbemerkt hätten sich in den meisten Ausbildungsberufen in den vergangenen Jahren die Anforderungen sowohl im Bereich qualifizierter Berufe erhöht, als auch in dem Bereich, in dem bislang auch Ungelernte eine Chance gehabt hätten. Die Konsequenz: Berufe, die man vor ein paar Jahren mit einem Hauptschulabschluss noch prima bewältigen konnte, „die sind heute fast nur noch für Abiturienten zu schaffen“, sagt Kupka. So seien nicht nur viele Metallfachberufe inzwischen so anspruchsvoll, dass sie umfangreiche Computerkenntnisse erfordern. Selbst der einfache Lagerarbeiter sei heute ein qualifizierter Beruf. Das ist eine Entwicklung, die die IAB-Experten mit großer Sorge verfolgen: Denn in diesem Bereich wird es auch dann keine Entlastung auf dem Arbeitsmarkt geben, wenn die Konjunktur wieder anspringt und besser Qualifizierte ohne größere Probleme einen Job finden.

Schlimmer noch: Wenn die Lage auf dem Arbeitsmarkt wieder besser werde, würden Abiturienten vermutlich wieder eher ein Studium aufnehmen. Haupt- und Realschüler würden dann zwar wieder erfolgreicher nach Lehrstellen suchen. Nur müssten sie sich dann mit Ausbildungen herumplagen, die zu schwierig für sie sind. Die Konsequenzen liegen nach Meinung von Arbeitsmarktexperten auf der Hand: Das berufliche Ausbildungssystem in Deutschland gerät weiter unter Druck, weil die Unzufriedenheit von Arbeitgebern und von Lehrlingen wachsen werde, wenn nichts passiert.

Wirtschaftsminister Schartau sieht eine Teilschuld der Politik an dieser Situation. „Wir haben in den vergangenen Jahren einen Fehler gemacht: Wir haben zu viel in die Ausbildungsordnung gedrückt.“ Deshalb würden Jugendliche als nicht fähig erscheinen. Die Lösung liege in einer „modularisierten Berufsausbildung“, die aus einer Reihe von Bausteinen zusammengesetzt werde und unterschiedliche Abschlussmöglichkeiten biete. „Wenn wir dagegen jede neue Kenntnis und Technik in die Ausbildung aufnehmen, dann haben wir bald keine Qualifizierten mehr.“ Die Arbeitswelt sei natürlich komplizierter geworden. „Eine Autotür sieht heute anders aus als noch vor 20 Jahren. Aber muss das alles in die berufliche Erstausbildung?“, sagte Schartau. Besser wäre es, wenn ein Berufsabschluss in ein stetiges Fortbildungssystem münde.

Abschied vom Traumjob

Aber auch die Jugendlichen könnten zur Entschärfung der Lage am Ausbildungsmarkt beitragen. Sie müssten flexibler werden, sagte Schartau. Das bedeute, dass sie sich bei der Stellensuche nicht auf einen einzigen Beruf festlegen. Genau in diese Richtung geht auch Bildungsministerin Bulmahn, die unflexiblen Lehrstellenbewerbern eine Kürzung der Sozialhilfe androht. Wer sich auf die Sozialhilfe verlasse, nur weil ein bestimmter Berufswunsch nicht in Erfüllung gehe, „bekommt Druck“, sagte Bulmahn dem „Focus“. „Wir können schon jetzt die Sozialhilfe kürzen und überlegen, das zu verschärfen.“

Die Gefahr, dass Jugendliche angesichts des engen Ausbildungsmarktes wahllos in Berufe gedrängt werden, die sich in wenigen Jahren schon als nicht krisenfest erweisen könnten, schätzt Schartau gering ein. Eine Ausbildung biete immer Vorteile. „Denn ohne Ausbildung sind die Jugendlichen ständig von Arbeitslosigkeit bedroht“, sagte NRW-Wirtschaftsminister Schartau. Mit einer Ausbildung würden sie dagegen Betriebsabläufe kennen lernen und so ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt stark erhöhen.

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