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Wirtschaft: Geb. 1911

Omri Sharon

Er hegte keinen Hass gegen die Deutschen. „Mir haben sie ja nie etwas getan.“

Als die Mitarbeiterin in der Drogerie erfuhr, dass er gestorben ist, ging ihr Blick leer durch den Verkaufsraum. Sie stand neben den hohen Regalen, wendete den Kopf zur Seite, als suche sie den alten Mann noch einmal in der Leere des Ganges, dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. Omri, der charismatische alte Mann aus Israel, würde nicht mehr kommen. Er würde nicht mehr durch die Tür treten, freundlich „Guten Tag“ sagen und eine kleine Unterhaltung mit ihr beginnen. Der gute alte Omri ist gestorben und liegt nun fern von Zehlendorf begraben, in jenem Land, in das er als 26-Jähriger vor den Nazis geflüchtet war. Omri Sharon, ein Jude, der einmal Martin Stitzky hieß.

Er ging, bevor es zu spät war, bevor er der Mutter nach Theresienstadt hätte folgen müssen. Schon 1933, als die Nazis die Macht gerade an sich rissen, zog er nach Schweden, dann nach Dänemark. „Wenn man mich in Deutschland nicht will, dann geh’ ich eben!“, hatte er gesagt. Als Jugendlicher konnte er sich noch mit bloßen Fäusten gegen die Anfeindungen der Gleichaltrigen wehren. Das war nun vorbei, er spürte es, da zog etwas auf, das gefährlich wurde. Er hatte ein feines Gespür, wenn es um menschliche Abgründe, um zwischenmenschliche Kalamitäten ging. Zeitlebens.

In Deutschland war er zum Erzieher ausgebildet worden. Menschen, die für andere Menschen da sind, braucht man immer und überall. So konnte er sich in Schweden und Dänemark durchschlagen. 1935 kam er auf einen Zwischenstop zurück. Das war gut geplant: Bevor es nach Palästina gehen sollte, lernte er noch, wie man ein Feld bestellt. Die Nazis ermöglichten ihm die landwirtschaftliche Ausbildung; Projekte dieser Art sollten die politischen Beobachter im Ausland beeindrucken: Deutschland unterstützt junge Juden bei der Ausbildung und Auswanderung nach Palästina. Für Martin Stitzky war es der beste Weg, schnell und sicher Europa zu verlassen. Er ging und wurde Omri Sharon.

Hat er sich seinen neuen n selbst ausgesucht? Wurde er ihm bei der Einbürgerung verpasst? Das weiß niemand mehr. Der Sohn des Premiers von Israel trägt den gleichen Namen. „Omri Sharon“ – ein israelischer Allerweltsname. „Omri“, so hieß einst ein König im Alten Testament, der Begründer der ersten Dynastie Israels. Auch Omri Sharon wollte etwas Neues beginnen: ein neues Leben in einem Kibbuz.

Im Kibbuz lernte er Hebräisch, dachte und träumte aber weiter in Deutsch. Die Briten, die Palästina verwalteten, wollten ihn an die Front gegen die Deutschen schicken. Aber Omri konnte nicht mit der Waffe gegen seine ehemaligen Landsleute kämpfen. Also wurde er in der Armee Lastkraftfahrer. Was erlebte er da, was sah er, welche Menschen und Schicksale lernte er kennen? Omris Spuren haben sich verwischt. Er war ein junger Mensch, wanderte aus, begann ein neues Leben in einem Kibbuz, gründete dort eine Familie mit einer jungen Witwe und ihrer Tochter. Sie bekamen zwei weitere Kinder, lebten in Kommune mit anderen Familien, bewirtschafteten Felder. Irgendwann verließ die Familie den Kibbuz, bezog ein eigenes Haus, dann scheiterte die Ehe, und Omri war wieder allein.

Aber er hatte ja noch Verwandte in Berlin, einen Cousin und dessen Familie. Omri hegte keinen Hass gegen die Deutschen. „Mir haben sie ja nie etwas getan.“ Jeder wusste, dass das so nicht stimmte, dass er damit einen Schutzwall errichtete. Wie hätte er sonst leben, sich Deutschland wieder nähern können?

Omri kam zurück. Besser gesagt, er pendelte nun zwischen den zwei Ländern seines Lebens, er legte sich nicht fest. Er bekam ein Zimmer im Haus seines Cousins in Berlin, hier fühlte er sich wohl. Zurück in Israel sah er seine Kinder und Enkelkinder. So ging es hin und her, die Aufenthalte mal länger, mal kürzer. Omri lernte schnell Menschen kennen, er ging auf sie zu, spürte, wenn sie verzweifelt waren. Er konnte zuhören, versuchte zu helfen. So entstanden neue Freundschaften.

Ganz genau weiß niemand, wo und mit wem Omri all die Zeit verbracht hat. Sein Bekanntenkreis war groß, und alle freuten sich, wenn sie ihn trafen. Wo hatte er die Freunde nicht alle kennen gelernt: auf Zugfahrten, im Kino, im Theater, auf Spaziergängen in dem Viertel seiner Kindheit längs der Greifswalder Straße. Alle liebten und umschwärmten ihn. Die Jüngeren luden ihn zu Silvester ein, andere besuchten ihn im Haus seines Cousins, tranken Kaffee, gingen mit ihm ins Restaurant oder in ein Konzert. Auf der Feier zu seinem 85. Geburtstag sagte er ihnen: „Wenn ihr mich begreifen wollt, müsst ihr verstehen, dass ich keinem von euch ganz allein gehöre.“

Omri Sharon, der ein Deutscher war und ein Israeli wurde, wollte in israelischer Erde begraben werden, er starb in Tiberias am See von Genezareth. Ein weiter Lebensweg für jemanden, der auch gerne in Berlin geblieben wäre, hätte man ihn damals nur gewollt. Stephan Reisner

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