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Wirtschaft: Geb. 1912

Heinz Lehmann

„Jetzt musst du ausatmen! Wenn die Arme nach vorne gehen.“ Das sagte er an die zehntausend Mal in seinem Leben.

Man kennt das. Da ist ein unbeliebter Posten zu vergeben, da wird ein Helfer gesucht – und im Saal macht sich peinliche Stille breit. Die einen nesteln an den Fingernägeln, die anderen schauen in die Luft, und alle wollen am liebsten unsichtbar sein. In solchen Momenten hob Heinz Lehmann die Hand. „Ja, mach’ ich“, sagte er. So wurde Heinz Lehmann Beisitzer im Schiedsgericht der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft. Und Vorsitzender der Laubenkolonie Rütli in Lichterfelde.

Diese Posten hatte er aber nur vorübergehend inne. Ein anderer wurde ihm zur Lebensaufgabe: Heinz Lehmann war Rettungsschwimmer. Seit 1934. Mit 72 Jahren legte er noch einmal nach und sprang für das goldene Schwimmabzeichen ins Becken. Schwamm gegen die Uhr, auf der Seite, dem Bauch, dem Rücken. Mal in Badehose, mal in voller Montur. Tauchte nach Ringen und Tellern. Schleppte Menschen durchs Wasser. Mit dem Halswürgegriff von hinten, dem Fesselschleppgriff und der Halsumklammerung. Warf den Rettungsball, den Gurt, die Leine. Über die Schwimmerei sagte er: „Ich mache so lange weiter, wie ich noch krabbeln kann“. Als Heinz Lehmann mit 90 starb, war er der älteste, aktive Rettungsschwimmer der DLRG.

Heinz Lehmann war kein Rettungsschwimmer, der sich im Strandbad mit gebräuntem Oberkörper und lässiger Miene auf dem Turm niederlässt. Keiner, der sich am liebsten vor großem Publikum in die Fluten stürzt. Heinz Lehmann rettete kein Leben, er arbeitete als Helfer beim Behindertenschwimmen in Charlottenburg und beim Training der Kinder und Jugendlichen. „Jetzt musst du ausatmen! Wenn die Arme nach vorne gehen“, sagte er freundlich und geduldig an die zehntausend Mal in seinem Leben.

Wenn Heinz Lehmann und seine Frau Gertrud ins Ausland reisten, fuhren sie mit einer Delegation der DLRG. Sie waren in den USA, in Japan, Hongkong und auf den Philippinen Da tauschte man sich mit den Kollegen über die Lebensrettung in starker Brandung oder die Wiederbelebung aus, um anschließend in Reisebussen das Land zu erkunden. Auf den Gruppenfotos steht Heinz Lehmann immer mittendrin, aber nie im Mittelpunkt. „Ein sehr zurückhaltender Mann“, sagt ein Freund. „Die Witze hat eher seine Frau erzählt.“

Privatgeschichten behielt Heinz Lehmann meistens für sich. Wenn jemand fragte, sauste er in Meilenstiefeln durch seine Vergangenheit: In Schönefeld geboren, 1918 eingeschult. „Ich freute mich riesig über jede Scheibe Brot und jede Kohlrübe“, erzählte er an seinem 85. Geburtstag einer Berliner Zeitung. Ausbildung zum Kunst- und Bauschmied. Beim Flugzeugbauer „Heinkel“ eingestellt. Gründer der Betriebsschwimmgemeinschaft. Von Kriegsende bis 1977 Technischer Leiter. 1996 Goldene Hochzeit. Ach ja, Laubenpieper in Lichterfelde, sagte Heinz Lehmann – und seine Frau unterbrach ihn lachend: „Hier ist er der Mann fürs Grobe."

Auch als Gertrud Lehmann vor zwei Jahren starb, blieb ihr Mann bei seiner Routine, fuhr zwei Mal in der Woche ins Schwimmbad an der Krummen Straße: Dienstags Behinderten-, mittwochs Kinder- und Jugendschwimmen. An seinem 90. Geburtstag tat ein Freund ahnungslos und lockte ihn unter einem Vorwand zur Wasserrettungsstation am Stößensee. „Klar, kann ich. Ich habe heute nichts vor“, sagte Heinz Lehmann. Von der Überraschungsparty, die dort auf ihn wartete, gibt es ein Foto: Heinz Lehmann steht leicht gebeugt in beiger Windjacke, beigen Hemd, beiger Hose, an seinem Handgelenk baumelt eine lederne Herrenhandtasche, inmitten einer bunten Truppe: Rettungsschwimmer in roten Pullis, Freunde in Bluejeans und der Bezirksbürgermeister in Anzug und Fliege. Heinz Lehmann lächelt nicht. Als die Geburtstagsreden gehalten und die ersten Gläser getrunken waren, nahm der Jubilar seinen Freund zur Seite – und sagte: „Mensch, war das schön!“

Katja Füchsel

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