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Wirtschaft: Geb. 1922

Walther Lux-Haberlandt

Ein Bild für ein ganzes Leben. Was gehört da rein? Ein Leuchtturm, eine Eiche und ein Tor – eine Pforte.

Der Brief war mit Schreibmaschine geschrieben, ohne Zweifel ein älteres Modell, so wie das dünne Papier, das sich mit den Jahren gelb gefärbt hatte. „Sehr geehrte Damen und Herren. Meine Frau Katharina ist am 18.12.2001 verstorben. Ich füge eine Kopie des Lebenslaufes bei und möchte damit ihr Interesse wecken. Zu einem ausführlichen Gespräch stehe ich gern zur Verfügung“.

Herr Lux hat Kekse bereitgestellt. Es dauert eine Weile, bis er die Tür geöffnet hat – die Beine machen Schwierigkeiten und das Herz. Über dem Sofa hängen Porträts der Vorfahren, kleinformatige, dunkle Ölgemälde aus dem 18. Jahrhundert. Ein Mann und eine Frau mit strengem Blick in Spitzenkragen. Ein Lux, eine Haberlandt.

Herr Lux kannte seine Frau seit seinem neunten Lebensjahr. 45 Jahre Ehe. Die Haberlandts und die Lux’ waren entfernte Verwandte, seit 1786. Nach den Kriegsjahren hat Katharina ein Leben an seiner Seite geführt, ist mit ihm nach Köln und Bonn gezogen, als er Repräsentant des Unternehmerverbands wurde, hat ihn zu Terminen begleitet, hat ihn gepflegt, als sie sein Herz operierten. Und er hat sie gepflegt, als sie nicht mehr gehen konnte, jahrelang. Bis jetzt. Gibt es etwas Wichtigeres als die Erinnerung?, fragt Herr Lux. Katharina war die Letzte aus ihrem Geschlecht. Es ist eine schlichte Frage der Ehre, dass er ihren Namen weiterführt, bis zu seinem Tod.

Neben dem Sofatisch stehen zwei alte Koffer. Akten, Fotos, Orden, alles sortiert, vorbereitet für das Hauptstaatsarchiv. Der Vater seiner verstorbenen Frau war der letzte Kompaniechef der preußischen Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde. Bis 1918. Die letzten versprengten Veteranen haben Herrn Lux, den Pastorensohn aus Masuren, zum Ehrenkadetten ernannt. Seither sammelt er Artikel, korrespondiert, knüpft Kontakte. Seiner Frau zuliebe, dem Vater seiner Frau zuliebe.

Aber nicht nur. Im Korridor hängt ein Stich vom alten Fritz. Preußen. Drill, Militarismus, Weltmachtswahn? Herr Lux schüttelt den Kopf. Leistung, Toleranz, jeder selig nach seiner Fasson. Mehr Sein als Schein. Preußen, das ist doch eine große Idee. Und Preußen ist vor allem eins: Vergangenheit.

Der Wind im Uferschilf

Vielleicht wird man so, wenn dem eigenen Leben plötzlich der Anfang fehlt. Süchtig nach Vergangenheit, nach Erinnerung, nach jedem aufbewahrten Stück alten Papiers. Weil das, woher man kommt, vor vielen Jahren für immer verschwunden ist. Die Heimat, das Elternhaus, die Kindheit. Ostpreußen. Der Wind über den Getreidefeldern, im Uferschilf der Seen, den rauschenden Wäldern. Der Schreibtisch von Herrn Lux biegt sich unter Dokumenten, Listen mit alten masurischen Ortsnamen: Barannen, Diebowen, Gollubien, Orte, die es nicht mehr gibt, mitten drin die Adlerschreibmaschine, ein Blatt ist eingespannt. Er steht jeden Morgen um sieben auf, er ist in Eile. So viel ist liegen geblieben in den letzten Jahren. Es gibt noch einen zweiten Raum mit Akten, mit Büchern, mit Bildern, kaum betretbar. Wie schön, wenn Zeit und Kraft reichen würden, das alles noch zu ordnen.

„Nicht alles, was Sie über meine Frau Katharina schreiben, entspricht meiner Auffassung. Aber es regt zum Nachdenken an!“

Der Nachruf auf Katharina Lux-Haberlandt stand in der Zeitung, Herr Lux schickt eine Postkarte mit charmant-diplomatischen Grüßen vom Bodensee, wo sich das schwache Herz erholen soll. Bevor er abgereist ist, hat er Pläne für die Zukunft gemacht: das Testament, das eilt am meisten. Und ein Exlibris möchte er entwerfen lassen, einen persönlichen Aufkleber für seine Bibliothek. So etwas wie die Summe seines Lebens in einem Bild. 80 Jahre, eine lange Zeit, aber es war doch nur ein Leben. Es muss doch in ein Bild passen. Und dieses Bild klebt er dann in jedes seiner Bücher, bevor er sie verschenkt.

Der General hat Angst

Er ist guter Dinge, ein Grafiker ist schon gefunden. Der Leuchtturm vom Brüster Ort an der Kurischen Nehrung gehört auf die linke Seite des Bildes. Ach überhaupt, der Ostseestrand… Dort im Samland war der Großvater Pfarrer im Kirchspiel Heilig Kreutz. Der Opa spannte den Rappen General mit dem zerschossenen Auge aus dem Ersten Weltkrieg vor die Kutsche und fuhr mit dem Enkel nach Warnicken und Großkuren. Und der General, der arme Kriegsversehrte, den die Wehrmacht großzügig verschenkt hatte, hatte panische Angst vor der dunklen Schlucht und scheute, wenn man ihm nicht beruhigend den Hals klopfte. Friedenszeiten. Nur manchmal musste ein großes Grab ausgehoben werden, dann war ein Schiff gekentert, und sie fuhren zu den Familien von ertrunkenen Seeleuten. Der Großvater trat in die dunkle Kate, der Enkel blieb auf dem Kutschbock sitzen und hörte das laute Weinen der Witwen. Und ihn flog eine Ahnung an, was die Zukunft bringen würde.

Was gehört noch auf sein Bild des Lebens? Die verschneiten Hügel in Czychen am Borker Forst, wo sein Vater Pfarrer war? Das knielange blonde Haar der Mutter? Seine eigene Eiche im Garten? Die eigentlich schon. Das große Haus aus rotem Ziegel, von drei Seiten umbaut mit dem Torfstall, dem Kuhstall, dem Schafstall, mit der Räucherkammer für Würste und Fische, dem Obstgarten, dem Taubenschlag, in dem sich Eulen einnisteten und Mäuse fingen? Wenn man Gerüche malen könnte, dann das Kartoffelfeuer im Herbst, Ognisko. Der schwarze Adler auf weißem Grund – das Wappen Ostpreußens, das auf jeden Fall.

Und die Zeit als Soldat in Norwegen? Und die fünf Jahre Kriegsgefangenschaft im Kohlen-Grubenlager, als die Internierten unter Sternenhimmel die Horney mit rauchiger Stimme singen hörten – „So oder so ist das Leben, immer nur Ebbe und Flut“? Und die Jahre in Bonn, in der großen Politik? Oder wie er nach dem Krieg von den Amerikanern in einem Kurs die Demokratie gelernt hat? Nichts davon. Dabei war die Zeit nach dem Krieg doch die, als das eigene Leben endlich anfangen sollte. Alles Versäumte nachholen. Zurück auf Start. Nichts davon im Lebensbild? Nein, nichts. Dafür drei Kraniche über der Ostsee, für die gefallenen Fliegersoldaten der Familie. Ein Schriftzug als Unterzeile: ex oriente lux. Das Licht, es kommt aus dem Osten. Und auf der rechten Seite ein gotischer Torbogen. Schulpforta, das Internat im Saaletal, das er als 13-Jähriger besuchte.

27 Mal am Tag läutet die Glocke

Im Sommer 1930 macht sich die Familie Lux auf in Richtung Westen, mit dem verplombten Zug und zugezogenen Gardinen durch den polnischen Korridor zurück ins Reich. Der Vater ist lungenkrank – noch ein harter ostpreußischer Winter wäre der Tod für ihn. Für die Kinder ist es ein Auszug aus dem Paradies, im Ankunftsort Theißen in Sachsen wird die „Pfaffenfamilie“ von der kommunistischen Dorfjugend mit Hohn und Schmierereien am Zaun begrüßt, dann die Armut, Inflation, der wehende Dreck der Schlote. Das also ist der warme Westen.

Erst 1934 wieder ein Lichtblick. Viel mehr als das: eine zweite Heimat. Gemeinsam mit seinem Bruder wird Walther Lux „Portenser“, Schüler der preußischen Landesschule St. Maria zu Pforta, wo seit dem 16. Jahrhundert begabte Knaben ohne Ansehen der Herkunft in klassischer Bildung unterrichtet werden. Ein Klosterbau aus dem 11. Jahrhundert, wertvolle Bibliotheken, ein prächtiger Park. 27 Mal am Tag läutet die Keilglocke, weckt, ruft zum Unterricht, zum Mittagessen, wo der Praecentor das Gebet „Gloria tibi trinitas“ anstimmt. Ein Ort voller Rituale, ein Ort, an dem noch das Vergangenste gegenwärtig wird. Hunderte von lateinischen Worten und Sprachkreationen wie „Prello“ (illegaler Ausflug über die Klostermauer), „Leichenfinger“ (Harzer Käserollen) und „Neckchen“ (Brötchen mit Fleischsalat) gehören zu dieser Welt, und das Andenken an ehemalige Schüler: Klopstock, Fichte, Ranke, Nietzsche. Und jedes Jahr im November das „Ecce“, wenn in der Klosterkirche die Namen der ehemaligen Schüler und ihrer Ehefrauen vorgelesen werden, die in diesem Jahr gestorben sind.

Wie die Bauern in Masuren

Noch so ein Plan für die Zeit nach dem Bodensee: im November nach Schulpforta reisen, zum „Ecce“ für seine Frau, für Katharina Lux-Haberlandt. Ob die Gesundheit das mitmacht? Schon ein paar Wochen nach der Rückkehr vom Genesungsurlaub geht es Herrn Lux wieder schlechter. Das Herz. Ein befreundeter Professor rät zur Operation. Die Entscheidung drängt, die Tage fliegen dahin in diesem Sommer. Er muss noch den Text für die eigene Todesanzeige entwerfen; in seiner Heimat Masuren kauften die Bauern schon ihren Sarg zu Lebzeiten und bewahrten auf dem Dachboden Äpfel darin auf. Er muss erzählen, wie seine Pforta 1935 „Nationalpolitische Erziehungsanstalt“ wur- de, und er nach den Sommerferien die Nachricht der SS erhielt, er könne sein Eigentum aus der Schule abholen. Nur ein Jahr war er in Pforta; und doch blieb er „Pförtner“ sein Leben lang, sammelte die Namen und Biografien ehemaliger Schüler für das Schularchiv, jubelte über die Wiederbelebung der alten Schultradition nach 1990, kümmerte sich um eine Sondermarke der Post zum 450. Jubiläum.

Noch im Krankenhaus schreibt er Briefe, vermittelt Pressekontakte. Das 460. Schuljubiläum steht vor der Tür. Jeden Vormittag setzt er sich an den Tisch zum Schreiben. Man kann doch nicht nur vegetieren, sagt er. Auch nicht mit einem halben Dutzend neuer Bypässe am Herzen. Noch immer schreibt er Zettel. Der letzte erinnert an ein französisches Gedicht, das er vor 60 Jahren in einer norwegischen Nacht übersetzte, um nicht einzuschlafen: „Ich erkenne jeden und alles / Ich erkenne auch den Tod, der uns alle umfasst / Ich erkenne alles – außer mich selbst.“ Woher stammt das bloß?, fragt Herr Lux, und notiert: „Bin dankbar für jeden Hinweis.“

Herr Lux liegt auf der Intensivstation. Es ist der 8. August 2002. Für das Exlibris gibt es nur einen Entwurf. Doch das „Ecce“ wird in diesem Jahr auch ihn umfassen, zusammen mit Katharina. „Ich war schon einmal drüben, in der anderen Welt", sagt er. Gestern Nacht. Es ist ruhig dort. Der Körper schmerzt nicht mehr. Die Seele hört auf zu drängen, zu suchen, zu fragen. Wohin gehen wir? Doch immer nach Hause, sagt Novalis.

Kirsten Wenzel

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