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Wirtschaft: Geb. 1927

Ruth Maykowski

Sie hörte zu. Selten, dass sie etwas von sich erzählte. Sie sagte: „Wenn die Zeit da ist, dann erfährst du auch was.“

Frisch aufgebrühter Kaffee, dazu ein paar Schrippen mit Wurst und Käse. Wenn Albert morgens um sechs von der Nachtschicht kam, stand auf dem kleinen Campingtisch im Erker alles bereit. Er brauchte sich nur noch auf den Klappstuhl zu setzen. Ruth hatte alles vorbereitet. Sie schenkte den Kaffee ein und setzte sich ihm gegenüber. Meistens war Albert sehr müde, dann schwiegen sie. Aber manchmal erzählte er auch, was los war auf Arbeit. Ruth hörte zu. Selten, dass sie etwas von sich erzählte.

Und wenn, dann „das, was Eheleute eben so zu besprechen haben“, sagt Albert. Was man noch bei Kamps, Aldi, Plus und Schlecker einkaufen muss. Was es abends zu essen gibt. Was im Fernsehen läuft.

Das, was Albert von Ruth nach zehn Jahren Ehe weiß, kann er in kurzen Sätzen zusammenfassen. An ihr Geburtsdatum erinnert er sich nicht gleich. Zehn Jahre älter als er war sie, das ist klar. Er zieht Ruths Unterlagen aus einer Klarsichtfolie und findet es: am 5. Mai geboren.

Weiter fällt ihm ein: Drei Ehemänner, zwei Söhne, zu denen sie keinen Kontakt mehr hatte, gelernte Rechtsanwaltssekretärin. Später Köchin. Danach Ehefrau. Warum er nicht mehr weiß, von seiner eigenen Frau? Weil er es lieber hat, wenn jemand von selbst was erzählt. Ruth habe immer gesagt: „Wenn die Zeit da ist, dann erfährst du auch was.“ Außerdem habe er es auch nicht wichtig gefunden, was früher war. „Jeder hat seine Vergangenheit“, sagt Albert.

Seine beginnt in Hessen. Nach Berlin hat es ihn, der damals noch als Fernfahrer gearbeitet hat und nun sein Geld als Gebäudereiniger verdient, wegen seiner ersten Frau verschlagen. 25 Jahre war er mit ihr verheiratet. Dann ist sie gestorben. Albert blieb allein, bis Ruth kam.

Das war im Sommer 1991. Albert ging von seiner Wohnung in Kreuzberg um die Ecke auf ein Bier ins Pückler Eck. Da saß er mit seinem Freund, dem Wirt, der jetzt in Westdeutschland wohnt, und plauderte. Dann stellte ihm der Wirt Ruth vor. Die war ihm sofort sympathisch, „weil sie wie eine Sekretärin sprach.“ Ruhig, nicht so plump und vernuschelt wie die anderen Frauen, die er so aus der Kneipe kannte. Sie redeten den ganzen Abend. Auch über Politik. „Die Ruth kannte sich darin ganz gut aus“, sagt Albert. Damals schon, aber auch später, als sie zusammengezogen waren, hat Ruth jeden Morgen die Zeitung gelesen, im Fernsehen vor allem die Nachrichtensender angeschaltet. Und der „Stern“ am Donnerstag war Pflicht.

Nach dem langen Abend in der Kneipe haben sie die Telefonnummern ausgetauscht, und Ruth ist dann in ihre Einzimmerwohnung im Seniorenheim in der Waldemarstraße gegangen. Zwei, drei Tage später hat Albert sie angerufen und gefragt, ob sie Lust hätte, einen Ausflug nach Treptow zu machen. Auf dem Ausflugsdampfer. Ob es Ruth gefallen hat auf dem Wasser, daran erinnert sich Albert nicht mehr so genau. Aber er weiß, dass Ruth kurz danach gefragt hat, ob sie den Schlüssel zu seiner Wohnung haben könne, um ihm mittags Essen in die Küche zu stellen. Damit er abends was Ordentliches im Magen hat.

Monatelang ging das so. Ruth brachte Schnitzel mit Kartoffeln und Gemüse, Schmorbraten, Kohlrouladen oder Hühnerfrikassee. Und Albert brachte ihr frühmorgens ein paar Zeitungen vorbei. Dass dann mehr daraus wurde, erklärt Albert mit „der Plötzlichkeit, die dann über mich hereinbrach“. Auf einmal fühlte er so ein Kribbeln im Bauch, und da hat er Ruth gleich in ein Restaurant am Checkpoint Charlie eingeladen, ein Italiener oder Spanier, so genau weiß er es nicht mehr. Dass er was für sie empfindet, hat er ihr da gesagt, und zwei Tage später hat sie ihn dann angerufen und gesagt, „dass das in Ordnung geht mit uns beiden.“ Daran erinnert sich Albert noch gut.

Ruth kündigte kurz darauf ihre Wohnung im Seniorenheim und zog in Alberts Altbauwohnung. Sie brachte nur die Couch, zwei Sessel und einen Koffer mit. Ansonsten blieb die Wohnung so, wie sie schon vor 25 Jahren ausgesehen hat. Die rot-geblümte Tapete mit den Zinntellern, die Albert als Fernfahrer gesammelt hat, die roten Vorhänge, die Schrankwand mit den bunten Weingläsern, der zerschlissene Teppich. „Ruth hat verstanden, dass ich hier meine Erinnerungen habe“, sagt Albert.

Im Frühjahr haben sie geheiratet.

Zehn Jahre später wollte Ruth ihren 75. Geburtstag feiern. Fünf, sechs Leute sollten kommen. Wochen vorher hat sie damit begonnen, die Blumen auf dem Balkon zu beschneiden und die, die völlig hinüber waren, aus den Balkonkästen zu reißen. Im Mai würde es vielleicht schon warm sein draußen, da könnten sich die Gäste auf den Balkon stellen. Dann hat Ruth noch die Küche sauber gemacht, um sich danach auf ihren Platz auf der Couch zu setzen, gegenüber von Albert, der in seinem Sessel saß. „Was ist mit mir?“, hat sie ihn noch gefragt. Dann ist sie zusammengesackt.

In der Nacht hat ein Arzt aus dem Krankenhaus angerufen und gesagt, dass Ruth gestorben sei. „Die Blutzufuhr blieb weg“, habe er gesagt, erinnert sich Albert. Mehr weiß er nicht über Ruths Tod.

An ihrem Geburtstag im Mai ist Albert auf den Balkon gegangen und hat Blumen gepflanzt. Geranien. Für die Feier hatte sie sich die gewünscht. Tanja Buntrock

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