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Wirtschaft: Geb. 1929

Nazir Ahmad Khan

Die Patienten verehrten ihn als Heiler mit übermenschlichen Kräften. Seine Kinder verdrehten die Augen, wenn er sich auf den Fußboden legte, um ihnen seine Atemübungen zu zeigen.

Für Nazir Ahmad Khan begann der Tag um vier Uhr morgens mit dem Abstieg in den Keller. Dort setzte er sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und meditierte, zwei Stunden lang. Seine tief dunklen Augen hielt er dabei leicht geöffnet, damit sein Geist nicht von Phantasien abgelenkt werden konnte. In jahrelanger Übung hatte er gelernt, sein inneres Ohr vollständig auszuschalten. Er atmete tief und langsam, ließ das Chi, die Energie, in seinen Bauch strömen, von dort in die Brust und durch die Arme, bis der goldene Fluss in den Fingerspitzen seiner grazilen Hände mündete. Dann stand er auf, zog die Joggingschuhe an und lief zehn Kilometer durch den Grunewald.

Nazir Ahmad Khan war Arzt – Ohrenarzt mit alternativen Heilmethoden und Atemtherapeut, ehemals Professor der Freien Universität Berlin. Es hatte sich herumgesprochen, dass Nazir Ahmad Khan operieren konnte, ohne dass es zu Nachblutungen kam. Zu seinen Patienten gehörten Stardirigenten, ein ehemaliger Bundespräsident, die japanische High Society, saudi-arabische Scheichs. Einen Prominentenbonus hatten sie nicht.

Seine Patienten verehrten Nazir Ahmad Khan als Heiler mit übermenschlichen Kräften. Allein durch Atemtherapie gelang es ihm, Menschen mit jahrelangen Tinnitus-Beschwerden zu heilen. Seine drei Kinder verdrehten die Augen, wenn sich ihr Vater auf den Fußboden legte, um ihnen seine Übungen zu zeigen. Sie wünschten sich, er würde stattdessen mit ihnen Fußball spielen oder eine lange Radtour machen, wie es die Väter ihrer Freunde taten.

„Der Körper“, predigte Khan seinen Patienten mit dem Lächeln einer Buddhastatue, „ist der Diener des Geistes. Wenn Sie Ihren Körper erneuern wollen, verschönern Sie Ihren Geist.“

Der Doktor war seinem Publikum ein überzeugendes Vorbild. Den gewöhnlichen biologischen Alterungsprozess schien er außer Kraft gesetzt zu haben. Seine Stirn war klar und hoch, die straffe Haut erinnerte an gut gepflegtes Leder. „Falten werden durch Torheiten, Leid und Stolz eingegraben“, sagte er, sein Gegenüber dabei mit schwarzem Blick durchbohrend.

Alle zwei Jahre füllte der Arzt seinen schwarzen Koffer mit Medikamenten und reiste in sein indisches Heimatdorf Akrahra am Rand des Himalaya. Auf dem Dorfplatz war er nach kurzer Zeit von einer Menschenmenge umringt. Unterm subtropischen Himmel klärte er die Leute über Wund-Desinfektion und Schutz vor Bakterien auf und legte seine saubere Hand auf fleckfiebrige Kinderstirnen. Der immer wiederkehrende Schutzpatron des Dorfes blieb stets nur für kurze Zeit, doch wenn er fort war, gingen die Kinder in die von ihm erbaute Schule, und einige Einwohner beteten in der Moschee, die er hatte errichten lassen.

Nazir Ahmad Khan war Moslem, und er blieb das auch, nachdem er Deutscher geworden war. Er fastete im Ramadan – aber zu Weihnachten ging er mit seiner Familie in den evangelischen Gottesdienst. Wirklich festlegen mochte er sich auf keine Religion, und so schuf er sich seine eigene. Sein Glaube galt der Macht des Geistes – und der Gesundheit seiner Hände. Er weigerte sich, seine fragilen Finger durch Rasenmäher oder Geschirrspülmaschinen in Gefahr zu bringen.

Einmal setzte er sie aber doch einem Risiko aus. Der älteste Sohn hatte ihn überredet, im Garten ein Birnbäumchen zu fällen. Der Sohn hackte den schlanken Baumstamm mit der Axt, während der Vater an dem Seil zog, das mit dem Bäumchen verbunden war. Er zog, bis seine Knöchel weiß wurden. Die Baumspitze neigte sich langsam, doch der Stamm wollte nicht nachgeben. Plötzlich riss eine gewaltige Kraft den Doktor vom Erdboden weg, das Seil umklammernd verlor er den Halt. Der halb gefällte Baum schleuderte ihn durch die Luft und mit gewaltiger Kraft auf den harten Boden zurück. Dort lag er nun, und jeder konnte sehen, dass er für solche Arbeit nicht geschaffen war. Es war seine Frau, die die Haus- und Handwerkerarbeit verrichtete. Der Doktor blieb bis spät abends in der Klinik und verbrachte dort auch die meisten Wochenenden.

Wenn er heimkam, war seine Frau oft zu müde für lange Gespräche, und so verkündete Nazir Ahmad Khan seine Lebensphilosophie dort, wo man ihm gern zuhörte: an den Krankenbetten und auch bei Prominenten-Stammtischen. Dort tat er die Bewunderung mit einem lässigen Handstreich ab: „Niemand ist ein besserer Arzt als ein freudiger Gedanke!“ Er lud Politiker in seinen Meditationskeller ein, die geschmeichelt mit ihm hinabstiegen, oder er joggte mit ihnen über den Teufelsberg im Grunewald, wenn er es für therapeutisch notwendig hielt.

Viele Leute warteten oft vor seiner Praxis, um sich von dem berühmten Heiler behandeln zu lassen. Manchmal drang dann durch das Fenster ein monotoner Singsang: „Wir lassen den Atem kommen, wir lassen ihn gehen, wir warten, bis er von selbst wiederkommt.“

An einem regnerischen Tag im August wurde Nazir Ahmad Khan mit starken Bauchschmerzen ins Krankenhaus eingewiesen. In seiner Leber befand sich ein Tumor, sein Körper war schon von Metastasen zerfressen. Eine Heilung war ausgeschlossen.

Der Arzt verließ das Krankenhaus und nahm die Arbeit in seiner Praxis wieder auf. Dem Tod hatte er in seiner Philosophie keinen Platz zugewiesen. Nazir Ahmad Khan wartete zuversichtlich auf die bald eintretende Spontanheilung. Sechs Tage später starb er.

Anna Kröning

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