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Wirtschaft: Geb. 1930

Er horchte nur selten nach innen, er sperrte lieber die Ohren ganz weit auf, um seine Umwelt zu vernehmen. In Kreuzberg kannte man ihn, seine Ämter aufzuzählen ist kaum möglich.

Er horchte nur selten nach innen, er sperrte lieber die Ohren ganz weit auf, um seine Umwelt zu vernehmen. In Kreuzberg kannte man ihn, seine Ämter aufzuzählen ist kaum möglich.

Wenn Hans Mielke einlud, gab es wohl immer reichlich Salat. Wie sonst wäre er auf die Idee mit den leeren Essigflaschen gekommen? In den sechziger Jahren waren die Essigflaschen noch aus flexiblem Plastik, und deswegen füllte Hans Mielke Schnaps hinein und warf sie mit Schmackes aus dem Fenster im ersten Stock der Wohnung in der Stallschreiberstraße.

Ein bisschen wunderlich, der junge Mann? Nein. Die Schnapsgeschosse landeten unter dem Beifall der Familie drüben bei den Grenzern. Ob sie sie auffangen konnten, das beobachteten die Mielkes ganz genau. Einmal flog eine Schachtel Zigaretten zurück ins Küchenfenster und alle waren verdutzt. Die Zeiten waren unbeschwert.

Die Wohnung in der Stallschreiberstraße sollte Hans Mielke bis zum Schluss behalten. Der groß gewachsene Mann mit dem stets leuchtenden Gesicht hat die ersten Monate mit der Mauer gelebt wie andere mit einer zickigen Ehefrau. Man musste sie austricksen, wenn sie einem schon so nahe war.

Mit den Schnapsflaschen war es vorbei, als Mielke beobachtete, wie die Grenzer einen jungen Mann auf der Flucht anschossen und mitten auf dem Todesstreifen verbluten ließen. „Mörder“, schrie Hans Mielke so lange und so laut, dass er auch Tage später nur krächzen konnte. Das war die Ausnahme, denn Hans Mielke war eigentlich ein besonnener Mensch, der zunächst eine Ungerechtigkeit analysierte, um schließlich dagegen anzugehen. Die Grenzer hat er nicht zu Vernunft gebracht. Sonst gelang ihm das fast immer.

Hans Mielkes Ehrenämter aufzuzählen, ist fast unmöglich. Von morgens bis abends fuhr Mielke mit dem Fahrrad durch Kreuzberg, er pendelte zwischen Willy-Brandt- Haus, Arbeiterwohlfahrt und Bezirksamt hin und her. Man kannte ihn in Kreuzberg, er gehörte zum Kiez, man grüßte, und er winkte freundlich zurück.

Mit Mitte 20 schon leitete er Eheseminare für Verlobte und jung Verheiratete und schrieb die Elternbriefe des Arbeitskreises Neue Erziehung. An manchen Tagen saß er stundenlang auf dem Spielplatz und beobachtete Kinder – Feldforschung, denn eigene Anschauungsobjekte hatte er nicht.

Er war Sozialdemokrat mit Leib und Seele, Sozialarbeiter, später in leitender Funktion, irgendwann dann Patientenfürsprecher im Urban-Krankenhaus, Schiedsmann am Gericht, Kassierer vom Vertriebenenverband. Unter anderem.

Im Sommer schwamm er jeden Morgen um sieben Uhr im Prinzenbad, kaltes Becken. Er mochte den Kiez um die Oranienstraße, war Stammgast bei „Hasir“ und im „Max und Moritz“. Für seine Frau Edith, 1958 hat er sie geheiratet, hatte er wenig Zeit. Edith schrieb in einem Brief an ihren Mann: „War es Liebe auf den ersten Blick? Ich glaube, nein.“ Edith und Hans haben einander oft geärgert und geneckt, voller Zuneigung und Respekt. Vielleicht auch, um die Dinge ein bisschen zu kaschieren, die eigentlich passierten. Es gab Probleme, die wurden im Keim erstickt.

Andere Probleme ging er mutig an, löste sie kraftvoll und energisch. Das waren aber meistens die Probleme anderer. Er war einer, der immer und mit großem Engagement für andere da war. Und er war einer, der die anderen nicht für sich da sein ließ. Den Privatmann Hans Mielke einfach anzurufen, war sogar für seine engsten Freunde und Verwandten ein kompliziertes Unterfangen. Anrufbeantworter, Mobiltelefon – das waren Dinge, mit denen er sich nie anfreunden konnte. Freunde hatten ihm mal einen Fernseher hingestellt. Ein paar Tage später war der Kasten verschwunden, einfach so.

Als Edith Mielke im Jahr, bevor die Mauer fiel, starb, zuckte Hans mit den Schultern und sagte: „So isses eben.“ Was in ihm wirklich vorging – wer weiß das schon. Er hat es niemandem gesagt. Trösten lassen wollte er sich nicht, auf gar keinen Fall, von niemandem. Er horchte nur selten nach innen, er sperrte lieber die Ohren ganz weit auf, um seine Umwelt zu vernehmen.

Spät abends, wenn er nach seinen ausgefüllten Tagen erschöpft, aber voller Genugtuung in seiner Wohnung saß, öffnete er gern eine Flasche Wein. Da war er mal ganz für sich, genoss selbst einmal. Zur Weinlese und zum Verkosten reiste er jedes Jahr ins Rheingau. Und dann, wieder die anderen: im Café der Arbeiterwohlfahrt veranstaltete er Weinproben für alte Leute, für seine Freunde bestellte er ein paar Kisten direkt beim Winzer, sammelte auch deren Pfandflaschen ein und verstaute sie in seinem Keller.

Als verdienstvoller Kreuzberger bekam er mal eine der seltenen Fläschchen Kreuz- Neroberger vom Kreuzberger Südhang geschenkt. Als eines Tages die „Morgenpost“ im Zusammenhang mit 118 verschwundenen Flaschen des Gebräus ein Foto von Hans Mielke druckte – ein Zufall, keine bewusste Anschuldigung – beschwerte er sich bitterlich: Als Weindieb gelten, das wollte er, der Kenner, der Helfer, nun wirklich nicht.

Woher Hans Mielke die Kraft nahm? Es scheint, als hätte sich sein ungeheures Potenzial mit jeder neuen Aufgabe noch verdoppelt. Seine Freunde foppten ihn dann und wann mit dem Bundesverdienstkreuz. „So einer wie du hätte schon längst eins bekommen müssen“, sagten sie. Seine Reaktion? Man kann sie sich vorstellen.

Der Einbruch kam für seine Umgebung überraschend. Für ihn nicht, denn er muss schon lange furchtbare Schmerzen gehabt haben. „Ich gehe ins Krankenhaus“, sagte er nur kurz zu seiner Nichte. Weshalb, wollte er, der Patientenfürsprecher, für sich behalten. Doch die Nichte bohrte nach, bis Hans Mielke ihr schließlich sagte, dass die Ärzte Darmkrebs festgestellt hatten. Und, dass sie bitteschön kein Drama daraus machen solle. Esther Kogelboom

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