zum Hauptinhalt

Wirtschaft: Geb. 1939

Hans-Joachim Müller

Von David Ensikat

Hans-Joachim Müller

Auf Hajos Platz sitzt jetzt Peter Wagner. Hajos Platz befindet sich im Saal ganz links, hinten an der Wand. Tisch 2, der „Karin-Tisch“, weil da auch die drei ledigen Karins dran sitzen. Jeden zweiten Sonnabend organisiert der „Jazztreff Karlshorst“ seine Dixieland-Konzerte, jeden zweiten Sonnabend kam Hajo her, ins Kulturhaus Karlshorst, dessen Saal vor zwanzig Jahren genauso aussah wie noch heute. So alt ist auch das große Transparent, das sie immer auf der Bühne hinter die Musiker hängen, „Jazz für Sie – Dixieland“.

Peter Wagner war einer der Jazztreff- Leute, die Hajo besser kannten – Hajo nannten ihn hier alle. „Was Privates wolln’se wissen? Was Privates über Hajo?“, fragt Peter Wagner erstaunt. Da könne er aber auch nicht weiterhelfen. Ein einziges Mal stand er vor Hajos Wohnungstür, aber der ließ ihn nicht hinein: „Geht gerade nicht, bin beschäftigt.“ Was man über Hajos Leben weiß, ist dies: Maurerlehre, knapp 25 Jahre bei der Volkspolizei, drei Mal geschieden, zwei Söhne, kein Kontakt zu ihnen, Minirente. Wer ihn nach mehr fragte, erfuhr nicht mehr.

Aber wozu sollte man nach mehr fragen? Es gibt doch den Jazz. Über den Jazz, genauer den New Orleans Jazz und Dixieland, konnte man Stunden mit Hajo sprechen. Besetzungslisten, wann hat wer mit wem gespielt, welche Aufnahmen gibt es, wer hat die, kann man sie überspielen, wann spielt die Tower Jazz Band in Berlin, wen kann man Sonntag früh in der Eierschale hören? Hajo meinte es ernst mit dem Jazz, ein anderes Thema gab es nicht. Mit Peter Wagner hat er oft telefoniert, und sie haben sich Faxe hin- und hergeschickt, immer sachlich, immer zum Thema.

Aber ging es wirklich um die Jazzmusik? Man könnte auch sagen: Hajos Thema war die Ordnung, die Vollständigkeit. Er war ein Sammler, einer, der sich Kataloge schicken ließ aus Übersee, der sie abglich mit seinen Beständen, mit denen anderer, und der, wenn er eine Lücke sah, alles darum gab, sie zu füllen. Da sein Geld knapp war, konnte er sich längst nicht alle Platten und CDs leisten, also überspielte er die Aufnahmen anderer. Früher mit dem Tonbandgerät, dann (und bis zum Schluss) mit seinem Mono-Kassettenrekorder, Typ R4100 vom VEB Sternradio Berlin. Das waren mal die besten Rekorder, die es in der DDR zu kaufen gab, über 1000 Mark hat so ein Gerät gekostet.

Ein paar von Hajos Freunden haben seine Wohnung doch noch gesehen. Es sind jene, die ihm kurz vor seinem Tod CDs geliehen hatten. Er ist einen sehr jähen Tod gestorben, ist einfach umgefallen, als er vor der „Kleinen Weltlaterne“ stand. Ab 20 Uhr war Einlass, die New Orleans Hot Pepper Jazz Band sollte spielen, zehn Minuten vorher hatte Hajo seinen Herzinfarkt.

Nun also betraten die Jazz-Freunde in Begleitung des Nachlassverwalters Hajos Neubauwohnung im elften Stock, Greifswalder Straße. Und sie verstanden, warum er selbst nie jemanden hereingelassen hatte. Auf Besuch war er nicht eingestellt. Ein einziger Stuhl stand in der kleinen Küche vorm Klapptisch, die beiden Sessel in der Stube waren mit Kartons belegt. Wie auch der Rest der Wohnung: überall Kartons. Darin befand sich Hajos großer Schatz, seine Sammlung New Orleans Jazz und Dixieland, die Tonbänder, Kassetten, Platten, so vollständig, wie er sie über die Jahre eben zusammentragen konnte. Es sah nicht so aus, als habe Hajo sich hier irgendwo zurückgelehnt, um seine schönsten Aufnahmen zu genießen. Die Sachen, die er getragen hatte, gestreifte Hemden, Blue-Jeans, rote Hosenträger, hingen an der Flurgarderobe, die Matratze, auf der er geschlafen hatte, war von Kartons umstellt.

Hajos Trauerfeier hat der Jazztreff Karlshorst organisiert, die Freunde, die er jeden zweiten Sonnabend beim „Jazz für Sie“-Konzert getroffen hatte, die ihn allesamt nicht wirklich kannten. Beim Sonnabendkonzert nach seinem Tod sammelten sie das Geld für die Festhallenmiete, beim Begräbnis waren sie dann alle da. Um die Hundert, etliche Musiker darunter. Von denen spielten sechs den Jazz, den Hajo mochte. Fröhliche Musik eigentlich.

Peter Wagner, der Mann, der jetzt in Karlshorst auf Hajos Platz sitzt, hat neulich den Kassettenrekorder R4100 in den Müll geworfen. Er sollte ihn für Hajo noch einmal reparieren. Aber da war nichts mehr zu machen.

Zur Startseite