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Wirtschaft: Geb. 1941

Leyla Kubat

In Anatolien lief sie von Dorf zu Dorf und überredete die Väter, auch ihre Töchter zur Schule zu schicken. In Kreuzberg lief sie von Haus zu Haus und überredete die Eltern, zu den Elternabenden zu kommen.

Meinst Du, ich kann bei Euch arbeiten?“, fragte sie ihren Bruder, der aus Deutschland zu Besuch gekommen war – „die Situation hier ist unerträglich.“ Auf den Straßen herrschte das Chaos, täglich starben Menschen. Leyla Kubat, die Tochter eines sozialdemokratischen Stadtkämmerers, war Ortsvorsitzende der Lehrer-Gewerkschaft TÖB- DER, ein paar Tage lang hatte sie deshalb im Gefängnis gesessen. Seitdem fürchtete sie, dass es ihr ähnlich ergehen könnte, wie vielen anderen unbequemen Lehrern. Sie würde nicht befördert und möglicherweise in eine entlegene Gegend versetzt werden. Einige Gewerkschafter sind damals auch umgebracht worden. Das war zu Beginn der siebziger Jahre, das Militär putschte wieder einmal, im Land herrschte der Ausnahmezustand.

Leyla Kubat hatte Glück. Die Schulverwaltung in Berlin suchte damals türkische Lehrer. Es gab Klassen, in denen 40 türkische Gastarbeiterkinder saßen, die kaum ein Wort Deutsch sprachen. Sogar in Fabriken fragte man nach, ob dort Lehrer aus der Türkei gelandet seien. Leyla Kubats Bruder, der Mathe- und Physiklehrer war, konnte ihr in der Kreuzberger Nürtingen-Schule eine Stelle vermitteln.

Im August 1972 kam sie nach Berlin, Deutsch lernte sie gemeinsam mit anderen Lehrern aus ihrer Heimat in einem Schnellkurs am Goethe-Institut. Ihr Mann und ihre Tochter sollten irgendwann nachkommen, aber der Mann überlegte es sich dann doch anders: Er wollte nicht in irgendeiner Fabrik arbeiten oder gar vom Geld seiner Frau leben müssen. Nun hoffte er, dass sie wieder zurückkommt.

Jahrelang pendelten die Eheleute hin und her, mal besuchte sie ihn in der Türkei, mal er sie in Deutschland. 1978 starb Leyla Kubats Mann, als er gerade in Berlin war. In diesem Jahr holte die Witwe ihre Tochter nach. „Das Kind soll richtig Türkisch lernen und dann Deutsch“, hatte sie damals gesagt, als sie sie zurückließ, jetzt hatte die Tochter die Grundschule in der Türkei absolviert, sie beherrschte ihre Heimatsprache. Leyla Kubat wohnte in Wilmersdorf; nach Kreuzberg, Wedding oder Tiergarten, wo die meisten ihrer Landsleute lebten, durfte sie nicht ziehen, hier gab es für Türken eine „Zuzugssperre“.

Als Karin Birnkott-Rixius an die Nürtingen-Schule kam, war Leyla Kubat seit einem Jahr im Land und 32 Jahre alt. Sie schminkte sich gern und trug Kostüme. Sie sprach Deutsch – „nicht perfekt, aber sie konnte sich verständigen“ – und hat doch außerhalb der Schule die neue Sprache kaum gebraucht: Auch in der Freizeit war sie ständig als Lehrerin unterwegs – in Kreuzberg bei den Eltern ihrer türkischen Schüler. Die meisten Gastarbeiter kamen aus den unteren sozialen Schichten, es waren Leute wie jene, mit denen Leyla Kubat schon in der Türkei zu tun gehabt hatte. Als sie in der Osttürkei ihren ersten Job antrat, ging sie von Dorf zu Dorf und sammelte die Kinder ein; eine Schulpflicht gab es nicht, und Väter musste man überreden, auch die Töchter zur Schule zu schicken.

In der Türkei sah Leyla Kubat unterernährte Kinder in Gummilatschen, weil die Eltern kein Geld für festes Schuhwerk hatten. In Kreuzberg hatten die Kinder ganz andere Probleme. „Ich bin aus Italien“, behaupteten sie, wenn sie von Deutschen als „Knoblauchfresser“ gehänselt wurden. Die Lehrerin aus Anatolien war entsetzt: „Ihr müsst Euch nicht schämen. Eure Kultur und eure Sprache ist genauso viel wert, wie andere Kulturen und Sprachen auch.“ Manchmal saß sie weinend im Klassenzimmer: Wie soll man diesen fremden kleinen Menschen die neue Sprache, die Kultur und auch noch Selbstbewusstsein beibringen? Viele Kinder konnten überhaupt keine Sprache richtig sprechen, weder Deutsch noch Türkisch. Die Gastarbeiter holten ihre Kinder nach, und jetzt kamen so viele Neulinge in die Klassen, bis nichts mehr ging. In den fünften Klassen saßen plötzlich Analphabeten. Nicht wenige Schüler pendelten ständig zwischen der Türkei und Deutschland hin und her.

Leyla Kubat trat in die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ein und arbeitete in der Ausländerkommission mit. Nun lief sie in Kreuzberg von Haus zu Haus und versuchte die Eltern zu überreden, zu den Elternabenden zu kommen und die Kinder nicht zwischen erster und zweiter Heimat hin- und herpendeln zu lassen. Und in den verbleibenden Stunden erteilte sie Nachhilfeunterricht.

Seit Mitte der achtziger Jahre experimentierten einige Lehrer an der Nürtingen- Schule mit der türkischen Sprache. Sie durchforsteten den türkischen und deutschen Wortschatz nach ähnlich klingenden Wörtern, sie suchten jene Vokabeln, die den Kindern besonders schwer fielen – den Unterschied zwischen Rauch und Dampf gibt es zum Beispiel im Türkischen nicht. Außerdem ließen sie die Kinder abwechselnd Deutsch und Türkisch vorlesen – obwohl sie damit gegen ein Tabu verstießen: Was sollte denn die Türkensprache mit dem Deutschunterricht zu tun haben? Leyla Kubat gab mit ihrer Freundin Karin Birnkott-Rixius die deutsch-türkische Fibel „Voneinander lernen – birlikte ögrenelim“ heraus.

So begann in Berlin die „zweisprachige Alphabetisierung“. Das Modellprojekt ging in die Schulgeschichte ein, 19 Schulen arbeiteten mit dem Konzept – ob erfolgreich oder nicht, darüber streiten sich bis heute die Gelehrten. Viele Schulen gaben das Konzept wieder auf, das zentrale Argument der Kritiker lautet: Die Kinder sollen hier Deutsch lernen, nicht Türkisch.

Leyla Kubat klagte über die ungenügende Unterstützung der Schulverwaltung, die Ergebnisse des Schulversuchs wurden nie wissenschaftlich ausgewertet. Dennoch war die Lehrerin, die eben nicht immer nur dolmetschen wollte, nicht verbittert. Ganz im Gegenteil: „Es war den Versuch wert“, sagte sie. In sieben Berliner Schulen läuft er noch.

Suzan Gülfirat

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