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Wirtschaft: Geb. 1943

Karl Stiehle

Er stammte aus dem schwäbischen Zwiefalten und kehrte dorthin zurück. Zwischendurch war er Genießer und Generaldirektor direkt unter dem Himmel von Berlin.

Die Stunden vor dem Tod sind oft sehr schön. „Mir geht es so gut wie schon lange nicht mehr“, sagte Karl Stiehle am zweiten Weihnachtsfeiertag und räkelte sich auf dem Sofa seines Bruders Wunibald im schwäbischen Zwiefalten. Sie hatten zusammen mit der Familie gekocht, gefeiert, auf die Zukunft angestoßen. Ein paar Stunden später lag er im künstlichen Koma, und die Ärzte kämpften um sein Leben, vergeblich. Ein schneller Tod, überraschend, und auch wieder nicht. Denn Karl Stiehle hatte sich schon lange damit abgefunden, dass er wegen seiner Herzkrankheit kaum Aussicht auf einen langen, ruhigen Lebensabend haben würde – doch gerade jetzt, nur ein paar Tage nach seinem 59.Geburtstag?

Aber bis dahin: ein Leben auf der Überholspur. So etwas gab es allerdings nicht im schwäbischen Zwiefalten, einem Städtchen auf der Alb zwischen Tübingen und Biberach, wo er aufwuchs. Der ältere Bruder, so war es üblich, übernahm die Landwirtschaft und das Gasthaus der Familie, der jüngere machte sich nach der Oberschule in die Welt auf, freilich, ohne sich allzusehr von den familiären Wurzeln zu lösen. Koch – das war das Richtige für ihn, im Ulmer Bundesbahnhotel stellte er sich an den Herd, und in Stuttgart machte er noch eine Kellnerlehre.

Was fehlte noch? Sprachen. Kein Problem in diesem Job, vor allem, wenn man oben anfängt. Ein Jahr im legendären Londoner Dorchester, ein Jahr im nicht minder legendären Plaza Athenée in Paris. Dann wieder Deutschland. Berlin! Der junge Karl, schlank, groß, körperlich ein wenig empfindlich, musste hierher, schon, um der Bundeswehr zu entkommen. Arbeitsplätze für einen flinken Kellner gab es hier viele, zum Beispiel im Schweizerhof, einer guten Adresse. Inzwischen war es 1968, doch die Studentenunruhen interessierten ihn kaum. Karl Stiehle wollte Karriere machen – und er mochte es nicht, wenn ihm jemand sagte, was er zu tun hatte.

Nächster Schritt: Das Palace-Hotel im Europa-Center suchte einen Oberkellner. Stiehle warf sich in den Smoking und packte an. Knapp zwei Jahre dirigierte er den Service, dann hatten seine Chefs einen besseren Job für ihn: stellvertretender Hoteldirektor. Jedenfalls für zwei Jahre. Ein Intermezzo als Geschäftsführer im frisch eröffneten Steglitzer Bierpinsel folgte, bis der Chefsessel im Palace frei wurde, Titel: Generaldirektor. Dazu Geschäftsführer der Gastronomiebetriebe im Europa-Center, über ihm nur noch der blaue Himmel Berlins und Karl-Heinz Pepper, der Immobilien-Mogul, dem das Gebäude gehören. Das Ziel war erreicht, die Überholspur eingenommen.

Dort gab er dann richtig Gas, gönnte sich, seinen Gästen und Freunden ein gutes Leben, legte selbst an Umfang mächtig zu, pflegte Liebe und Kennerschaft zu den besten Bordeaux-Weinen und Cognacs – ein Renaissancemensch und Lebemann fast klischeehaften Zuschnitts.

Wie alle guten Hoteldirektoren war er ein Perfektionist und guter Rechner, aber den meisten guten Hoteldirektoren hatte er auch einiges voraus: Kontaktfreude, Großzügigkeit, Witz mit Tendenz zum offenen Sarkasmus, vor allem aber raumfüllende Präsenz und Spaß an öffentlichen Auftritten.

So knüpfte er Freundschaften zu den Wichtigen und Einflussreichen, er gründete eine Art Salon für Gäste, die nicht auf den Luder- und Promi-Listen der PR-Agenturen standen, sondern vom Chef erwählt wurden, Wirtschaftsführer, Politiker, Journalisten, auch – pikant für einen, der einst vor der Wehrpflicht geflüchtet war – Bundeswehrgeneräle. Eine persönliche Einladung zum Krebsessen an einem schönen Sommersonntag im kleinen Kreis schlug niemand aus. Mit engen Freunden, die er höherer Kennerschaft verdächtigte, flog er im Charterjet nach Cognac, ins Piemont oder nach Burgund, immer auf der Suche nach kulinarischen Maßstäben, die ihn besser erkennen ließen, wie gut das eigene Hotel war.

Vormachen konnte ihm in seinem Gewerbe niemand etwas, doch das war nur eine Seite seiner Professionalität. Die andere, das war der Mut zu Entscheidungen und Investitionen gegen den vermeintlichen Trend. Visionen? Da hätte er die Augenbrauen steil hochgezogen, wie er es gerne tat, und kurz gelacht: Einfach den Markt beobachten und das Richtige tun, nicht wahr? Kurz vor der Wende 1989 setzte er den Ausbau des so genannten Spielbankflügels durch, von dem er später sagte, ohne ihn gäbe es das Hotel nicht mehr. Weitere Zimmer kamen hinzu, schließlich das aufwändige Restaurant „First Floor“, das von den meisten Kollegen als millionenschwere Fehlinvestition belächelt wurde – allerdings nur so lange, bis es kulinarisch erfolgreich war und die hohen Kosten als gesteigerte Logis-Umsätze vielfach zurückkehrten. Nie blieb ein Zweifel daran, wer im Haus das Sagen hatte: Als Stiehle mit seinem Küchenchef Rolf Schmidt, einem ebenso charismatischen Dickkopf, zusammenprallte, war das Ergebnis von vornherein klar, und der Rauswurf des renommierten Kochs machte Boulevard-Schlagzeilen. Doch all das kostete Kraft, das luxuriöse Leben hinterließ Spuren, das Herz machte sich bemerkbar. Gegen Ende der neunziger Jahre musste sich Karl Stiehle stark mäßigen, er verlor viele Kilo und bekam viele Komplimente für sein gesünderes Aussehen. Doch die tat er ab, denn er wusste wohl besser, was in seinem Körper vorging.

In seinen letzten Adventswochen hat sich Stiehle noch einmal ein besonderes Vergnügen gegönnt: „Aufbruch“ essen, ein deftiges Ragout aus Wildinnereien, die ihm ein befreundeter Jagdpächter lieferte. Das kochte er selbst, trank dazu 1981er Haut-Brion – und Mineralwasser als Zugeständnis an die Gesundheit. Genützt hat es nichts mehr. Die plötzlichen inneren Blutungen wären allein nicht tödlich gewesen, doch das kraftlose Herz spielte nicht mehr mit. Karl Stiehle, der Berliner Großstadtmensch, wurde in Zwiefalten, seiner kleinen schwäbischen Heimat, bestattet.

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