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Wirtschaft: Geb. 1943

Uwe Woynowski

„Ich glaub, der 6te ist dein Papa“, hat die Pflegerin über eines seiner Fotos geschrieben. Und sie hat Bärchensticker danebengeklebt, als wäre dies das normale Fotoalbum eines normalen Jungen.

Das Letzte, was er spürt in seinem ersten Leben ist der Aufprall, das Letzte, was er sieht, ein Autoreifen. Dann schluckt ihn das Koma. Als Uwe nach sechs Monaten erwacht, fehlen ihm ein Bein, ein Arm und die Erinnerung. Als Uwe erwacht, ist er nicht mehr der agile Eilbote von der Post, 20 Jahre alt und verliebt in Jutta. Er ist… irgendwas. Etwas, das nicht sprechen, nicht alleine essen kann, dessen Hirn verrückte Dinge anstellt. Das ist 1963. Jahrzehnte folgen, in denen er nichts von sich weiß.

Bleibt, sein Dasein zusammenzusuchen aus Indizien und schwarz-weißen Bildern, wie er es auch getan hat, in den letzten sieben Lebensjahren. In seinen letzten sieben Jahren ist Uwe wiedererwacht. Gerti hat dabei geholfen, die Pflegerin, die im Heim für die Alten immer die Geburtstage ausgerichtet hat. Eine große goldene 95 zum Beispiel hat sie in die Gardinen gehängt und den Gästen Clownshütchen aufgesetzt. Uwe sprach sie eines Tages an und fragte: Machst du mir auch so einen Geburtstag? Gerti verstand ihn. Keiner sonst verstand den Mann, der mehr lallte als sprach. Das war der Neubeginn.

Uwe war zu diesem Zeitpunkt total verwahrlost. Viele Jahre lang hatte kaum jemand mit ihm gesprochen. Therapien gab es keine. Wie auch, in diesem Heim. Dies war eins für alte Leute, keins für Behinderte. Weil es für junge Schwerbehinderte damals kaum eigene Einrichtungen gab, hatte man ihn hierher geschickt. 47 alte Menschen und zwei Pflegerinnen auf einer Etage.

Uwe hatte ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten bei dem Unfall. Da fallen manche Hirnregionen aus, andere verlieren die Verbindung zueinander. Uwe dachte etwas, aber konnte es nicht aussprechen. Die Bilder, die Gedanken, sie waren da, in seinem Kopf, aber dass der Mund sie nicht formen wollte, das ließ ihn sich selbst hassen, eingesperrt im Ich. Eine andere Sache, die der Kopf nicht mehr konnte: planen. Vorausschauen in andere Situationen und sie sich ausmalen. Er und der Raum um ihm herum, zeitlich wie örtlich – das brachte Uwe nicht mehr zusammen. Daten bedeuteten ihm nichts. Oder Verabredungen. Nachdem man ihn morgens angezogen hatte, wartete er darauf, dass jemand kam. Uwe hat lange nur von jetzt bis gleich gelebt. Gestern gab’s nicht.

Gerti erkundigte sich über ihn. Viel war über Uwes Vergangenheit nicht bekannt. Der Vater fällt bei Stalingrad. Die Mutter bringt sich aus Trauer um, als Uwe sechs Jahre alt ist. Uwe wächst bei der Großmutter auf, lernt Galvaniseur, aber verträgt die Säuren nicht. Dann geht er zur Post, doch er kann kaum länger als ein halbes Jahr gearbeitet haben bis zum Unfall. Nach dem Tod der Großmutter folgt die Verschickung durch die Institutionen: Jahre im Neuköllner Krankenhaus, dann Reha bis die Kasse nicht mehr zahlt. Dann die WG, die er verlassen muss, weil er sich nachts vor lauter Langeweile aus dem Bett wirft und herumrobbt. Dann das Altersheim mit 54 Jahren. Und Gerti.

Namen konnte Uwe sich gut merken. Das brachte Gerti auf die Idee, dass der stille Mann so reduziert nicht sein könne. Vielleicht war alles, was er brauchte, ein wenig Anregung? Sinne stimulieren, Reaktionen fordern – Kommunikation ist auch nur Übungssache. Sie begann, Uwes Habseligkeiten auszupacken, die ihm selbst so fremd waren, und ihm die Bilder zu zeigen. Eines von Jungs auf dem Bolzplatz einer Neuköllner Mietskaserne zum Beispiel. Gerti konnte auch nur raten, wer all die Leute auf dem Foto waren. „Ich glaub, der 6te ist dein Papa“, hat sie drüber geschrieben und Bärchensticker danebengeklebt, als wäre dies das normale Fotoalbum eines normalen Jungen.

Es war kein schnelles Wiedererwachen. Und es war keine professionelle Therapie. Es waren ein bisschen Zuneigung, viel Geduld, und diese Autofahrten durch Berlin. Uwe und Gerti saßen im Auto und suchten auf gut Glück die Orte seiner Kindheit. Uwe sah stumm hinaus und manchmal blitzten Bilder auf. Wie er mit seiner Jutta am Ernst-Reuter-Platz ist. Wie er Herrn Meier ein Telegramm bringt. Wie die Großmutter im Badezimmer stirbt, und Uwe im Rollstuhl daneben nicht helfen kann.

Wie jemand wäre, wenn nicht dies oder jenes geschehen wäre, das ist ein Spiel, das zur Verzweiflung treiben kann. Wäre der Unfall nicht gewesen, vielleicht hätte Uwe Woynowski einen Garten gehabt, denn Blumen mochte er, vielleicht auch ein schnelles Auto, denn Autos mochte er auch. Oder eine große Frau. Große Frauen mochte Uwe besonders. Das Begehren blieb unschuldig. Triebe werden im Heim ignoriert oder mit Tabletten therapiert. Stattdessen hat Uwe seine großen Frauen fotografiert, Pflegerinnen und Ärztinnen, in weißen Kitteln, die ihn anlächeln. Seine Fotos in den Alben waren die, auf denen die Leute immer schief über Eck standen.

Anfangs war Uwe noch sehr passiv, ärgerlich wurde er nie. Gerti hat ihm das nach und nach beigebracht: eine Meinung haben, sie durchsetzen. Uwe lernte auch seine Unterschrift und die Bild-Zeitung lesen und Verantwortung zu übernehmen. Zum Schluss hatte er am Tisch eine führende Rolle und schaute genau darauf, dass keiner zu kurz kam. Nur selbst umherfahren, in einem elektrischen Rollstuhl, das wollte er nicht. Man hatte das mit ihm ausprobiert. Er manövrierte gut. Er hätte im Kiez umherfahren können, seine Zigaretten einkaufen zum Beispiel. Aber lieber wollte er sich schieben lassen. Selbstständigkeit war Einsamkeit.

Wenn’s geregnet hat, sind Gerti und Uwe immer zu Möbel Hübner gefahren, das war dann wie in der Wohnung von Freunden. Sie sind Fahrstuhl gefahren und haben die Stockwerke gezählt, haben mit dem Rollstuhl am Fenster gestanden und auf Berlin geschaut. Zum Schluss wusste Uwe Woynowski, wo er war, und wie alt er war. Vor vier Wochen ist er an Krebs gestorben.

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