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Wirtschaft: Geb. 1947

Sabine Schreiber

Am liebsten wäre sie jeden Morgen um sechs zur Frühandacht gegangen. Aber wie sollte das funktionieren?

Spitze Nase, schmale Lippen, Sommersprossen, kurze Haare, keck nach vorne gekämmt. Dann diese Augen, wie kann man so gucken? Sie fixieren den Fotografen aus den äußersten Winkeln, lassen ihn nicht aus dem Sichtfeld entwischen. Der Fotograf, so vermuten wir, wollte ihr schönes Profil aufnehmen. Sabine, sehr jung noch, gehorchte ihm, aber ihre Augen passten auf, dass nichts passiert. Wer weiß, was so ein Fotograf im Schilde führt? Sabine war nicht ängstlich, aber sie fürchtete, einen Fehler zu machen, der nicht wieder gutzumachen ist. Sie suchte nach Gewissheit. Später, als Mutter, ließ sie ihre vier Kinder nicht aus den Augen. Fuhr die Feuerwehr am Haus vorbei, war ihr erster Gedanke: Hoffentlich ist nichts passiert!

Sehen wir mal von den Jahren ihrer Krankheit ab, kann man sagen, der allmächtige Weltenlenker hat es gut gemeint mit Sabine. Sie hatte von Anfang an ein gutes Verhältnis zum Christengott. Er arrangierte es, dass sie einen Mann kennen lernte, der sich bald als Idealbesetzung erwies. Eine Symbiose: Sie kümmerte sich um die Einzelheiten des familiären Sozialgefüges, um die Kontakte nach außen, um den Nachschub an Kleidung und Lebensmitteln, um Urlaubsfahrten, Finanzplanung und die Freizeit der Kinder. Er arbeitete, auch am Wochenende. Und wenn er abends nach Hause kam, genoss er das Familienleben. Was sie leistete, schätzte sie selbst am wenigsten.

Ich bin ja nur Hausfrau. Was wird von mir bleiben? Wenn sie kommen, um nachzuschauen, werden sie in meinen Kleidern überall Einkaufszettel finden und Plastikchips für die Einkaufswagen.

Als er noch studierte, verdiente sie schon Geld als Kinderkrankenschwester. Eine große Familie wollte sie immer haben, doch sechs Jahre lang passierte in dieser Angelegenheit gar nichts. Sabine war verzweifelt. War alles Beten umsonst? Als sie ihren Wunsch schon aufgegeben hatte, wurde sie doch noch schwanger. Und der Traum vom eigenen Haus – der erfüllte sich auch bald.

Wenn vom Tag noch etwas Zeit übrig blieb, bastelte sie Bäumchen aus Perlen und Draht, strickte Fingerpuppen, faltete Papierfiguren, bemalte Seidentücher oder verschickte selbst gemachte Grußkarten. Dinge verschenken war ihr Hobby. Im Keller gab es ein gut sortiertes Geschenkevorratslager. Ein anderes Hobby war das Helfen. Dabei konnte es passieren, dass Sabine die Grenzen der Konventionen leicht touchierte. Wenn jemand im Restaurant die Karte studierte und über eine geraume Zeit unschlüssig blieb, empfahl sie dem Unbekannten ein Gericht. Sie half auch Leuten über die Straße, die vielleicht gerne alleine gegangen wären.

Dass ihre Hilfe nicht immer willkommen war, überraschte Sabine. Deshalb fuhr sie auch gerne auf Urlaub nach Florida, in die USA. Dort freuten sich alle Menschen, wenn Sabine sie ansprach. Auch die offene Religiosität der Amerikaner kam ihr entgegen. Nach den Geboten Gottes zu leben, das war ihr Ideal. Am liebsten wäre sie jeden Tag um 5 Uhr aufgestanden und um 6 Uhr zur Frühandacht in die Kirche gegangen, wie ihre Oma aus dem Fränkischen. Aber wie soll das funktionieren, mit einem Mann und vier Kindern?

Mit der katholischen Kirche gab es auch so genug auszustehen. Dem Pfarrer hatte sie bei der Trauung versprechen müssen, die Kinder katholisch zu erziehen. Sonst hätte sie Michael, den Lutheraner, nicht heiraten dürfen. Nun wurden sie aber doch evangelisch erzogen, weil Michael ihnen die Beichte nicht zumuten wollte. Vielen Katholiken sind solche Abweichungen vom rechten Weg ein kleines Zipperlein. Sabine nahm diese Fragen sehr ernst, horchte in sich hinein, ob in dieser Sache ein Dispens zu erwarten sei, am Jüngsten Tag. Auch der Papst bereitete Sabine manche Sorgen. Ist Empfängnisverhütung wirklich eine Sünde? Michael, der Lutheraner, konnte über den Papst einfach hinwegsehen. Sabine musste ihm glauben – wider besseren Wissens.

Als dann die Krebsdiagnose kam und die Lebenszeit plötzlich endlich erschien, wurden die Fragen an Gott und seine Kirche noch existenzieller.

Was ist mit dem Fegefeuer?

Muss ich da wirklich durch?

Wie wird das sein?

Sabine beruhigte sich erst, als Freunde Messen für sie lesen ließen. Michael, der Chirurg, verließ sich lieber auf seine Hände. Als es kaum noch Hoffnung gab, operierte er Sabine ein letztes Mal. Er wollte nichts unversucht lassen, sagt er, frei nach Luthers Empfehlung, vor dem Weltuntergang noch ein Apfelbäumchen zu pflanzen. Vier Wochen später war Sabine tot.

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