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Wirtschaft: Geb. 1949

Reino von Neumann-Cosel

„Dieser Gerechtigkeitssinn!“, schrieb die Mutter voller Stolz und ohne Ahnung, wo das noch hinführen würde.

Es verstand sich vieles von selbst bei den von Neumann-Cosels. Dass auf den Tischkarten bei Tantes Geburtstag meist adlige Namen zu lesen waren, und dass die Herren einen Smoking trugen. Dass man heiratete, dass die Söhne Tennis und Hockey spielten und in Tirol Skifahren lernten. Dass sie zu Studienbeginn in eine Burschenschaft eintraten. Und dass sie es beruflich weit brachten: als Anwälte oder Manager in der Wirtschaft. Leistungsträger, konservativ natürlich, dazu verpflichtete die Herkunft aus preußischem Offiziersadel.

Reino von Neumann-Cosel war der zweite von vier Brüdern. Seine Mutter hat seine Kindheit in handgeschriebenen Erinnerungsnotizen festgehalten. Mit drei Jahren ruft Reino, wenn sie ihm einen Bonbon schenkt: „Aber für Sigurd auch einen!“ Sigurd ist sein großer Bruder. Für die Kleinen ist Reino später ohnehin der Beschützer gegen den strengen Vater. „Dieser ausgeprägte Gerechtigkeitssinn!“, schreibt seine Mutter voller Stolz und ohne Ahnung, wo das noch hinführen würde.

Seine Leistungen an der Universität sind exzellent, er fährt gut Ski, er ist flink im Hockey. Und dann kommt es zum Bruch. Reino ist 20 Jahre alt, als er seiner Familie klar macht: Mit mir kein Adelsdünkel, keine CDU. Es ist das Jahr 1969, Reino geht nach Berlin zum Studieren und zieht in eine Wohngemeinschaft in der Marburger Straße. Hier kommt dann auch ein Kind zur Welt, die Eltern haben keinen Trauschein. Reinos Mutter ist entsetzt: ihr Sohn in wilder Ehe. Seine Möbel: Orangenkisten. Sein Zimmer: der Gemeinschaftsraum in der WG.

Immerhin, sein Studium: Wirtschaftsingenieur an der Technischen Universität; Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft, Jura. Der Doppelstudiengang gilt als Nachwuchsschmiede für Unternehmensberater, einigermaßen verpönt in linken Kreisen. Doch Reino hat anderes im Sinn. Gemeinsam mit einigen anderen überlegt er, wie man das erworbene Wissen im Sinne der Schwächeren, der Arbeitnehmer, einsetzen kann. Der Paragraph 80, Absatz 3 des Betriebsverfassungsgesetzes! Ein eleganter Trick, so etwas gefällt ihm. Der Gesetzesabschnitt legt fest, dass Betriebsräte den Rat von Sachverständigen einholen können – und dass der Arbeitgeber das bezahlen muss. Es sollen geregelte Verkehrsformen herrschen zwischen den Ungleichen, den Besitzenden und Arbeitenden.

Reino und Freunde gründen eine Firma, sechs Häuptlinge und keine Sekretärin, keine Hierarchien, jeder tippt seine Briefe selbst. Die Firma berät ausschließlich Arbeitnehmer. Sein großer Bruder wird Personalleiter bei Siemens. Reino steht auf der anderen Seite. Er wird von den Beschäftigten gerufen, wenn eine Betriebsschließung ansteht, eine Fusion oder eine Ausgliederung. Was bedeutet das für die Arbeiter?, fragen die Betriebsräte, Reino von Neumann-Cosel studiert die Unternehmensbilanzen, entwirft den Sozialplan. Denen auf der anderen Seite des Tisches macht er es schwer. Er kennt die Tricks, versteht etwas von Rentabilität. Er wird nie laut. Er mag keinen Krieg, er zieht den Ausgleich vor.

Deshalb macht er auch mit den Eltern seinen Frieden. Vor der Geburt des zweiten Kindes heiratet er, zum 60.Geburtstag seines Vater erscheint er im Smoking. Solche Kleinigkeiten verbiegen ihn nicht mehr, ein paar Monate später trägt er schließlich denselben Smoking zum Fasching – als Graf Dracula. Er kauft die Skihütte der Eltern, familiäre Traditionspflege. Über Politik redet man bei Familientreffen nicht.

Er geht jeden Tag früh um acht aus dem Haus und kommt oft nach zehn Uhr abends zurück. Seine Arbeit muss ihm viel Freude machen, auch oder gerade, weil es ihm ernst ist. Weil es immer um Existenzen geht. Als er an Prostatakrebs erkrankt, legt er einen Aktenordner an und sammelte darin alles, was es zum Thema gibt. „Ich habe nicht vor, daran zu sterben“, verkündet er und ist bald besser informiert als jeder seiner Ärzte. Er analysiert nach gewohnter Methode: Wie ist die Situation? Wie sind die Chancen? Was kann ich tun? Er ruft Konferenzen ein, referiert die Forschungslage, diskutiert mit seiner Familie und Freunden: Chemotherapie oder Operation, Bestrahlungen, dieses oder jenes Medikament? Als die Krankheit sich trotz allem nicht aufhalten lässt, probiert er es mit Chi Gong, der chinesischen Medizin, die auf die Stille setzt, auch wenn er Stillstand überhaupt nicht schätzt. Er versucht eine Hitzebehandlung in der Schweiz, nimmt täglich eine umstrittene chinesische Kräutermedizin, die er sich aus Holland schicken lässt. Er besucht auch einen Wunderheiler. „Es kann ja nicht schaden“, sagt er zu seiner Frau, „selbst wenn man nicht dran glaubt“.

Bis zum Schluss hofft er, dass die Entwicklung der Forschung schneller sein wird als der Krebs. Er versucht zu taktieren, auf Zeit zu spielen, jeder gewonnene Tag ist so ein Triumph. Er arbeitet, schreibt E-Mails, telefoniert noch im Krankenhaus. Er ist optimistisch, dass sich wieder eine einvernehmliche Lösung finden lässt. Auch mit diesem letzten Gegner.

Kirsten Wenzel

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