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Wirtschaft: Geb. 1952

Daniel Marcuse

Es waren die Fingerspitzen, mit denen er seine Kundinnen zum Reden brachte.

Einmal im Monat gönnte sich die Frau das Vergnügen der totalen Entspannung. Den sanften Druck der kreisenden Fingerspitzen auf ihrer Stirn, die schmelzenden Gesänge von José Carreras aus dem Hintergrund, den schweren Duft der Creme, die seine Fingerspitzen in ihre Haut massierten. Auf der roten Markise steht noch sein , „Kosmetikinstitut Marcuse“; seriös klingt das und doch angenehm intim. Das Schaufenster hat er noch selbst dekoriert, die Ketten mit den zitronengelben Herzen aus Glas, die ihr so gut gefallen, hat er ausgesucht, so wie die verschnörkelten Kerzenständer aus Messing.

Die Frau hat keinen Namen, sie will Diskretion, sie ist eine reife Frau, eher älter als jünger, eine Kundin von Daniel Marcuse. Wenn sie den Salon betrat, wusste sie, dass er zur Begrüßung lächeln würde. Sie konnte sich darauf verlassen. Garantiert. Er würde ihr zuhören, er würde Verständnis haben. Und nach zwei Stunden in seinem mit Jalousien verhängten Reich im Souterrain der Albertstraße würde sie sich tausend Mal besser fühlen als zuvor.

Es waren die Fingerspitzen, mit denen er sie zum Reden brachte. Nicht dass er es darauf angelegt hätte. Es ergibt sich nun einmal so, wenn der eine Mensch nackt unter einem Handtuch liegt und der andere jede Zelle seiner Haut fachmännisch durch ein Vergrößerungsglas betrachtet. Zu Beginn der Prozedur, wenn Marcuse die Poren mit Ozondampf öffnete und steril machte, sprachen sie über Allgemeines; den neuen Spanier in Steglitz, das letzte Reiseziel, die Angebote bei den Haushaltswochen im KadeWe. Dort kannte sich Marcuse aus. Er hatte jahrelang als einziger Mann in der Kosmetikabteilung gearbeitet und die Vorteile einer französischen Firma für Cremes und Lotionen angepriesen.

Was nun folgte, war der schwierigste Teil der Begegnung: Mit Pinzette, Haemostiletten und Kommodonenheber musste Marcuse zupfen, pieksen und vorsichtig drücken. Den Härchen, Pickeln und Mitessern zu Leibe rücken, dabei jedoch nie quetschen, damit sich nichts entzündete. Auch wenn es zwickte, schloss sie entspannt die Augen. Sie vertraute ihm, sie kam seit 24 Jahren. Nie hatte ihre Haut eine Rötung davongetragen.

Wie von selbst ging es im Gespräch nun um die persönlichen Themen. Er arbeitete den Inhalt der Collagen-Ampulle tief in ihre Haut ein, sie klagte über die Sprachlosigkeit des Gatten und die Entdeckung der neuen Falten im Dekolleté.

Er kannte ihre Lebensgeschichte und die Namen der Personen, die darin eine Rolle spielten. So wie die Lebensgeschichte der nächsten Kundin, und der übernächsten. Vier oder fünf waren es am Tag, manchmal mehr, und doch kann sich seine Mutter, die gelegentlich das Telefon im Salon hütete, nur an wenige Momente erinnern, in denen er zu ihr gesagt hat: „Lass mich bloß in Ruh’ mit all dem Altweibergequatsche“.

Und die Kundin? Was wusste sie von ihm? Einiges, sagt sie. Ein vertrautes Gespräch ist schließlich ein Geben und Nehmen. Er mochte es kitschig, wie den lebensgroßen Porzellan-Bobtail neben der Eingangstür, er malte Blumenaquarelle für seine Freunde, immer wieder Korn- und Mohnblumen, und genierte sich niemals für das, was er liebte: Andere fanden es es vielleicht peinlich, wenn er bei „Mary und Gordy“ laut mitsang. Er wohnte zwei Hausecken vom Salon entfernt und versuchte seit Jahren, sich das Rauchen abzugewöhnen. Jeden Morgen rief er seine Mutter an, für die er Blumenerde in den vierten Stock schleppte, der er die Haare färbte und deren Einkaufsberater er lebenslang war.

Die Kundin wusste, dass er einen Lebensgefährten hatte und eine kleine Schwester, der er Details aus seinem Liebesleben anvertraute. Und dass er, wenn er abends seinen Laden zuschloss, zum Volleyball oder zum Kegeln ging, um die von der Arbeit angespannten Muskeln wieder zu lockern.

Wie er mit seinen Freunden im Taxi von Lokal zu Lokal fuhr und durch die Bars zog, das blieb Daniel Marcuses Privatsache, das war im Salon kein Thema. Ein- bis zweimal im Monat brauchte er das: die vollerzählte Festplatte löschen. Es muss viel drauf gewesen sein. Alle preisen ihn dafür, wie gut er zuhören konnte.

Sein lockiges Haar hat die Kundin immer bewundert. Es war schwarz und glänzte, so wie der gepflegte Schnauzbart über den vollen Lippen. Er verriet ihr, dass er sich schon länger die grauen Haare mit der Pinzette ausriss. „Die Jahre hinterlassen ihre Spuren“ heißt es auf einem Werbeplakat in seinem Salon. Aber schließlich kann man etwas dagegen tun. Dass er krank war, behielt er für sich.

Als Daniel Marcuse in die Klinik musste, lehnte er Besuch ab. Nur die Familie durfte kommen. Und ein Friseur, den er in das Krankenhauszimmer bestellte, um den Bart abzunehmen und die Lockenpracht kurz zu schneiden, bevor das Haar wegen der Chemotherapie ausfiel. Er wäre in diesem Jahr 50 geworden. Kirsten Wenzel

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